»Von einem der Verlorenen hätte ich etwas anderes erwartet«, grollte Anaiya hörbar in sich hinein. Auch sie machte einen müden Eindruck, dennoch zwang sie sich dazu, die nächsten Aufgaben in Angriff zu nehmen. Sie packte Nicola an der Schulter. »Ihr könnt Euch kaum noch auf den Beinen halten. Ins Bett mit Euch. Geht schon, Kind. Ich will gleich am Morgen mit Euch sprechen, noch vor dem Frühstück. Angla, Ihr bleibt da. Ihr könnt Euch wieder mit mir verknüpfen und mir ein wenig Kraft zum Heilen zuführen. Lanita — ins Bett.«
»Es waren nicht die Verlorenen«, sagte Nynaeve. Oder, genauer gesagt, murmelte sie erschöpft. Licht, war sie müde! »Es war eine Blase des Bösen.« Die drei Aes Sedai blickten sie an. Und nicht nur sie —auch die anderen Aufgenommenen und die Novizinnen, alle, bis auf Elayne. Sogar Nicola, die immer noch nicht weg war, starrte sie an. Diesmal war es Nynaeve aber egal, wie abschätzend der Blick dieser Frau sein mochte; sie war einfach zu müde, um dabei etwas zu empfinden.
»Wir haben in Tear schon einmal eine erlebt«, berichtete Elayne, »mitten im Stein.« Es waren eigentlich nur die Nachwehen gewesen, aber doch so schlimm, daß beide gehofft hatten, sich nie wieder einer solchen Blase nähern zu müssen. »Hätte uns Sammael angegriffen, würde er nicht nur mit Stöcken nach uns werfen.« Aschmanaille tauschte einen unergründlichen Blick mit Bharatine, einer Grünen, bei der sogar ein so dürrer Körper lediglich schlank und graziös wirkte, und deren lange Nase noch wohlgeformt aussah.
Anaiya zuckte nicht mit der Wimper. »Ihr scheint noch über eine Menge Energie zu verfügen, Elayne. Ihr könnt mir beim Heilen helfen. Und was Euch betrifft, Nynaeve... Ihr habt Saidar wieder verloren, nicht wahr? Nun ja, Ihr wirkt ohnehin, als müsse man Euch ins Bett tragen, aber dorthin müßt Ihr schon alleine finden. Shimoku, steht auf und geht ins Bett, Kind. Calindin, Ihr kommt mit mir.«
»Anaiya Sedai«, sagte Nynaeve vorsichtig, »Elayne und ich haben heute nacht etwas herausgefunden. Könnten wir vielleicht allein mit Euch...«
»Morgen, Kind. Ins Bett mit Euch. Und zwar sofort, bevor Ihr mir umfallt.« Anaiya wartete nicht einmal, um zu sehen, ob ihre Anweisung befolgt wurde. Sie zog Calindin mit und schritt hinüber zu einem stöhnenden Mann, dessen Kopf im Schoß einer Frau lag. Als sie sich über den Mann beugte, zog Aschmanaille Elayne mit sich fort, und Bharatine ging mit Angla in eine andere Richtung. Bevor sie in der Menge verschwand, blickte sich Elayne schnell noch einmal nach Nynaeve um und schüttelte kaum sichtbar den Kopf.
Nun gut, dies war möglicherweise wirklich nicht der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort, um die Schale und Ebou Dar zur Sprache zu bringen. Anaiyas Reaktion war ein wenig eigenartig gewesen, als sei sie enttäuscht darüber, daß es sich nicht wirklich um einen Angriff der Verlorenen gehandelt hatte. Warum aber? Sie war zu müde, um noch nachdenken zu können. Wohl hatte Anaiya die Stränge gelenkt, aber Saidar hatte Nynaeve dennoch eine gute Stunde lang durchströmt, und das hätte gereicht, auch jemanden zu ermüden, die eine ganze Nacht lang gut geschlafen hatte.
Vor Erschöpfung wankend erblickte Nynaeve nun auch noch Theodrin. Die Domanifrau humpelte mit einem Paar weißgekleideter Novizinnen an ihrer Seite die Straße entlang und blieb dort stehen, wo jemand mit einer Verletzung lag, die sie mit ihren mageren Fähigkeiten zum Heilen gerade noch behandeln konnte. Sie sah Nynaeve offensichtlich nicht.
Ich gehe jetzt ins Bett, dachte Nynaeve mürrisch. Anaiya Sedai hat es mir befohlen. Warum war ihr Anaiya so enttäuscht vorgekommen? Ein Gedanke nagte gerade am Rande ihres Verstands, aber sie war zu müde, um ihn zu verfolgen. Ihre Schritte schleppten sich dahin. Beinahe wäre sie auf ebener Straße noch gestolpert. Sie würde jetzt schlafen! Sollte Theodrin doch machen, was sie wollte.
15
Aufgetürmter Sand
Egwene öffnete die Augen und blickte ins Leere. Einen Moment lang lag sie noch entspannt auf ihrer Bettstelle und fühlte nach dem Großen Schlangenring, der an seiner Kordel um ihren Hals hing. Wenn sie ihn an der Hand trug, löste das zu viele eigenartig berührte Blicke aus. Es war leichter, sich als Schülerin der Weisen Frauen einzureihen, wenn niemand sie gleichzeitig als Aes Sedai betrachtete. Was sie sowieso nicht war. Sie war eine Aufgenommene, die so lange vorgetäuscht hatte, sie sei eine Aes Sedai, daß sie es manchmal schon selbst glaubte.
Ein wenig Morgensonnenschein blinzelte unter der Zeltklappe hervor und erhellte spärlich das Innere. So, wie sie sich fühlte, hätte sie überhaupt nicht schlafen müssen. Ihre Schläfen hämmerten. Seit dem Tag, als Lanfear sie und Aviendha beinahe getötet hätte, dem Tag, da die Verlorene und Moiraine sich gegenseitig getötet hatten, schmerzte ihr Kopf jedesmal so, wenn sie aus Tel'aran'rhiod zurückkehrte. Aber die Schmerzen waren nicht derart schlimm, daß sie sie außer Gefecht gesetzt hätten. Wie dem auch sei, zu Hause hatte ihr Nynaeve einiges über Kräuter beigebracht, und hier in Cairhien hatte sie die richtigen Arten gefunden. Schlafgut-Wurzel machte sie für gewöhnlich schläfrig und würde sie in einem Erschöpfungszustand wie jetzt stundenlang schlafen lassen, und dazu würde sie jeden Rest von Kopfschmerzen beseitigen.
So stand sie auf, zog ihr verknittertes, schweißnasses Nachthemd zurecht und schritt langsam über die dicken Teppichschichten hinüber zum Waschbecken, einer großen, gravierten Kristallschale, die möglicherweise früher einmal den gewürzten Wein irgendeines Adligen enthalten hatte. Sie enthielt lediglich klares Wasser, genau wie der blau glasierte Krug. Doch als sie ihr Gesicht befeuchtete, war das Wasser leider nicht mehr kühl zu nennen. Ihr Blick traf den ihrer eigenen Augen, die ihr aus einem kleinen Spiegel mit vergoldetem Rahmen an der Zeltwand entgegensahen, und ihre Wangen liefen rot an.
»Also, was hast du denn geglaubt, was geschehen würde?« flüsterte sie. Für möglich hätte sie es nicht gehalten, aber die Wangen ihres Spiegelbilds färbten sich noch dunkler rot.
Es war schließlich nur ein Traum gewesen, nicht wie sonst in Tel'aran'rhiod, wenn das, was im Traum geschehen war, beim Erwachen noch immer reale Auswirkungen zeigte. Doch sie erinnerte sich an jede Einzelheit, als sei es Wirklichkeit gewesen. Sie glaubte, ihre Wangen müßten beinahe Feuer fangen. Nur ein Traum, und überdies noch Gawyns Traum. Er hatte kein Recht, auf diese Weise von ihr zu träumen.
»Es war alles seine Schuld«, berichtete sie ärgerlich ihrem Spiegelbild. »Nicht meine! Ich hatte schließlich keine Wahl!« Reuevoll schloß sie den Mund. Einem Mann seine Träume vorwerfen. Und wie eine dumme Gans mit einem Spiegel sprechen.
Sie blieb an der Zeltklappe stehen und bückte sich, um hinauszuspähen. Ihr niedriges Zelt befand sich am Rand des Aiellagers. Die grauen Mauern Cairhiens erhoben sich etwa zwei Meilen westlich über die kahlen Hügel. Zwischen dem Lager und der Stadt lag nichts als versengter Boden, wo einst das Vortor einen dicht bewohnten Ring um die Stadt gebildet hatte. Alles war im Schein der Morgensonne scharf umrissen und klar, so daß es noch nicht sehr spät sein konnte, und doch eilten die Aiel bereits geschäftig zwischen den Zelten einher.
Heute würde sie nicht früh aufstehen. Nach einer ganzen Nacht außerhalb ihres Körpers — ihre Wangen liefen erneut rot an; Licht, würde sie den Rest ihres Lebens über eines Traums wegen erröten? Sie fürchtete es fast — hatte sie es wohl verdient, bis zum Nachmittag zu schlafen. Der Duft nach heißem Haferbrei konnte es mit ihren schweren Augenlidern nicht aufnehmen.
Träge schlich sie zu ihren Decken zurück und ließ sich schwer darauffallen, wobei sie sich die Schläfen rieb. Sie war sogar zu müde, um sich noch Tee aus Schlafgut-Wurzel zu bereiten, aber in diesem Zustand war es ohnehin egal, und sie brauchte die Hilfe nicht. Der dumpfe Kopfschmerz ließ gewöhnlich nach etwa einer Stunde nach, also würde sie beim Erwachen nichts mehr davon spüren.