Normalerweise übernahm entweder Bair oder Amys die Führung, doch heute sprach Melaine — Haare wie die Sonne und grüne Augen — zuerst: »Wenn Ihr aufhört, zu essen, könnt Ihr euch nicht erholen. Wir hatten uns überlegt, Euch zu unserem nächsten Zusammentreffen mit den anderen Aes Sedai mitkommen zu lassen, weil sie jedesmal nach Euch fragen...«
»Und sich jedesmal wie die typischen Feuchtländer lächerlich machen«, warf Amys bissig ein. Sie war keineswegs eine gehässige Frau, aber die Aes Sedai in Salidar hielten sie bestimmt für eine. Vielleicht lag es nur an diesen Zusammentreffen mit Aes Sedai. Ihrer Sitte entsprechend mieden die Weisen Frauen solche Treffen, besonders diejenigen, die mit der Macht umgehen konnten, so wie Amys und Melaine. Außerdem ärgerte es sie, daß die Aes Sedai Nynaeve und Elayne bei ihren Treffen verdrängt hatten. Egwene paßte das ebenfalls nicht. Sie vermutete, die Weisen Frauen hätten die beiden durch die Betonung der Gefahren in Tel'aran'rhiod abgeschreckt. Den Bruchstücken der Inhalte solcher Treffen nach zu schließen, die sie mittlerweile erfahren hatte, waren die Aes Sedai aber keineswegs eingeschüchtert. Es gab nicht viel, was Aes Sedai abschrecken konnte.
»Wir müssen wohl noch einmal alles überdenken«, fuhr Melaine gelassen fort. Vor ihrer kürzlichen Heirat war sie reizbar wie eine Löwenmutter gewesen, doch mittlerweile schien sie nichts aus der Ruhe bringen zu können. »Ihr dürft nicht in den Traum zurückkehren, bevor Euer Körper nicht wieder seine vollen Kräfte erlangt hat.«
»Ihr habt Ringe um die Augen«, sagte Bair mit besorgter, dünner Stimme, die zu ihrem Gesicht paßte. In vielerlei Hinsicht jedoch war gerade sie die härteste der drei. »Habt Ihr schlecht geschlafen?«
»Wie könnte sie auch gut geschlafen haben?« fragte Amys mürrisch. »Dreimal habe ich letzte Nacht versucht, in ihre Träume zu blicken, und jedesmal habe ich nichts vorgefunden. Keine kann gut schlafen, wenn sie nichts träumt.«
Egwene trocknete schlagartig der Mund aus, und die Zunge klebte ihr am Gaumen. Sie mußten ausgerechnet in der einzigen Nacht nach ihr sehen, in der sie nur ein paar Stunden lang nicht in ihrem Körper zugegen war.
Melaine runzelte die Stirn. Sie sah nicht Egwene an, sondern Cowinde, die immer noch mit gesenktem Kopf am Fuße der Bettstatt kauerte. »Neben meinem Zelt ist ein Sandhaufen aufgetürmt«, sagte sie in beinahe so scharfem Tonfall wie früher. »Ihr untersucht ihn Sandkorn für Sandkorn, bis Ihr ein rotes Korn findet. Falls es nicht das richtige ist, nach dem ich suche, werdet Ihr von neuem beginnen. Geht jetzt.« Cowinde verbeugte sich lediglich, bis ihr Gesicht die bunten Teppiche berührte, dann hastete sie hinaus, Melaine sah Egwene an und lächelte freundlich. »Ihr scheint überrascht. Wenn sie nicht von allein tut, was sich schickt, muß ich sie eben zwingen, sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Da sie nach wie vor behauptet, mir zu dienen, untersteht sie auch noch meiner Verantwortung.«
Bairs langes Haar flog, als sie den Kopf schüttelte. »Es wird nicht wirken.« Sie rückte den Schal auf ihren knochigen Schultern zurecht. Egwene kam in ihrem dünnen Nachthemd ins Schwitzen, obwohl die Sonne noch gar nicht richtig am Himmel stand, doch die Aiel waren ganz anderes gewöhnt. »Ich habe Juric und Beira verprügelt, bis mein Arm zu müde war, um weiterzumachen, aber so oft ich ihnen auch befehle, das Weiß abzulegen: vor dem Sonnenuntergang haben sie ihre Roben wieder an.«
»Es ist wie ein Fluch«, knurrte Amys. »Seit wir in die Feuchtländer kamen, hat sich ein ganzes Viertel all jener, deren Zeit vorüber ist, geweigert, zu ihren Septimen zurückzukehren. Sie verdrehen Ji'e'toh und seine Bedeutung.«
Das war Rands Schuld. Er hatte allen das enthüllt, was zuvor nur die Clanhäuptlinge und die Weisen Frauen gewußt hatten: einst hatten alle Aiel gelobt, keine Waffe mehr zu berühren und keine Gewalt zu gebrauchen. Nun glaubten viele, daß sie eigentlich alle als Gai'schain dienen müßten. Andere wieder weigerten sich deshalb, Rand als den Car'a'carn anzuerkennen, und noch weitere liefen täglich weg und schlossen sich den Shaido an, die sich in den Bergen weiter nördlich aufhielten. Ein paar warfen auch einfach die Waffen weg und verschwanden. Niemand wußte, was aus ihnen wurde. Sie waren von der ›Trostlosigkeit‹ erfaßt worden, wie es die Aiel bezeichneten. Das seltsamste daran, jedenfalls für Egwene, war die Tatsache, daß niemand unter den Aiel — bis auf die Shaido natürlich — Rand die Schuld daran gab. Die Prophezeiung von Rhuidean besagte, der Car'a'carn werde sie zurückfuhren und vernichten. Wohin zurückführen, da war man sich nicht sicher, aber daß er sie auf irgendeine Art und Weise vernichten werde, das akzeptierten sie genauso ruhig, wie Cowinde mit ihrer Arbeit begann, obwohl sie um deren Hoffnungslosigkeit wußte.
In diesem Augenblick war Egwene all das völlig egal, und hätte auch jeder Aiel in Cairhien die weiße Robe angelegt. Sollten die Weisen Frauen auch nur den Verdacht haben, daß sie auf eigene Faust... Falls dem so war, hätte sie auch freiwillig hundert Sandhaufen umgegraben, doch sie glaubte nicht, daß sie so leicht davonkommen würde. Ihre Strafe würde viel härter ausfallen. Amys hatte einmal gesagt, falls sie nicht genau das tat, was man ihr befahl — weil die Welt der Träume zu gefährlich sei, müsse sie das schwören —, würde sie nicht mehr weiter unterrichtet. Zweifellos würden andere das unterstützen, und dies war die einzige Strafe, die sie wirklich fürchtete. Lieber tausend Sandhaufen unter der glühenden Sonne.
»Blickt nicht so erschüttert drein«, schmunzelte Bair. »Amys zürnt nicht allen Feuchtländern, und sie ist Euch sicher nicht böse, denn Ihr seid ja fast schon eine Tochter unserer Zelte. Es liegt an Euren Schwestern, den Aes Sedai. Die eine namens Carlinya hat sogar angedeutet, wir hielten Euch möglicherweise gegen Euren Willen fest.«
»Angedeutet?« Amys blasse Augenbrauen zogen sich fast zum Haaransatz hoch. »Die Frau hat das ganz eindeutig ausgesprochen!«
»Und dabei gelernt, ihre Zunge besser zu hüten.« Bair lachte und schaukelte auf ihrem roten Sitzkissen. »Ich wette, sie hat es gelernt. Als wir sie verließen, hat sie immer noch gejammert und versucht, diese Scharlach-Puffottern aus ihrem Kleid herauszubekommen. Eine Scharlach-Puffotter«, verriet sie Egwene, »sieht für die trüben Augen eines Feuchtländers genauso aus wie eine gewöhnliche Rote Puffotter, aber sie ist ungiftig. Wenn sie auf engem Raum eingesperrt ist, windet sie sich naturgemäß ziemlich stark.«
Amys schnaubte. »Sie wären längst fort gewesen, hätte sie sich vorgestellt, daß sie weg sind. Diese Frau ist nicht lernfähig. Die Aes Sedai, denen wir im Zeitalter der Legenden dienten, können gewiß keine solchen Narren gewesen sein.« Immerhin schien sie sich beruhigt zu haben.
Melaine gluckste ganz offen vor Vergnügen, und Egwene ertappte sich ebenfalls beim Kichern. Vieles am Humor der Aiel blieb ihr wohl rätselhaft, dieses aber nicht. Sie hatte Carlinya nur dreimal getroffen, aber das Bild, daß diese steife, eisige und hochmütige Frau wild herumtanzte und versuchte, Schlangen aus ihrem Kleid zu entfernen... Sie gab sich alle Mühe, nicht schallend loszulachen.
»Na, wenigstens ist Euer Sinn für Humor zurückgekehrt«, sagte Melaine. »Sind die Kopfschmerzen wieder aufgetaucht?«
»Mein Kopf ist in Ordnung«, log Egwene, und Bair nickte.
»Gut. Wir hatten uns Sorgen gemacht, als sie so hartnäckig blieben. Solange Ihr davon abseht, in nächster Zeit die Welt der Träume zu betreten, werden sie wohl wegbleiben. Habt keine Angst, daß Ihr einen bleibenden Schaden erleidet; der Körper benutzt den Schmerz nur, um uns mitzuteilen, daß er Ruhe benötigt.«