Tylin atmete tief ein. Der freundliche Gesichtsausdruck blieb, aber ihre Stimme nahm einen scharfen Unterton an. »Nun, ich habe mich Euch offenbart. Nun beantwortet meine Frage. Warum erweisen mir vier weitere Aes Sedai die Ehre?«
»Wir sind hier, um ein Ter'angreal zu suchen«, sagte Elayne, und während Nynaeve verwundert aufschaute, erzählte sie alles von Tel'aran'rhiod bis zum Staub in dem Raum, in dem sich die Schale befand.
»Es wäre ein wunderbarer Segen, das Wetter wieder berichtigen zu können«, sagte Tylin zögernd, »aber das Viertel, das Ihr beschreibt, scheint mir der Rahad jenseits des Flusses zu sein. Sogar der Büttel tritt dort nur leise auf. Verzeiht — ich weiß, daß Ihr Aes Sedai seid —, aber im Rahad könntet Ihr ein Messer im Rücken haben, bevor Ihr es merkt. Wenn man edle Kleidung trägt, benutzen sie eine sehr schmale Klinge, damit nur wenig Blut fließt. Vielleicht solltet Ihr diese Suche Vandene und Adeleas überlassen. Ich glaube, sie haben solche Orte schon häufiger gesehen als Ihr.«
»Sie haben Euch von der Schale erzählt?« fragte Nynaeve stirnrunzelnd, aber die Königin schüttelte den Kopf.
»Sie haben nur erzählt, daß sie hierhergekommen seien, um etwas zu suchen. Aes Sedai erzählen niemals mehr, als sie unbedingt erzählen müssen.« Erneut erstrahlte Tylins Lächeln. Es wirkte recht heiter, obwohl dadurch die Narben als dünne Linien auf den Wangen sichtbar wurden. »Bis auf Euch beide zumindest. Möge die Zeit Euch nicht allzu sehr verändern. Ich wünschte mir oft, Cavandra wäre nicht in die Burg zurückgekehrt. Mit ihr konnte ich ebenfalls so offen reden.« Sie erhob sich, bedeutete ihnen aber, sitzen zu bleiben, und schlug einen Silbergong an. »Ich werde nach kühlem Minztee schicken, und wir werden uns unterhalten. Ihr werdet mir erzählen, wie ich Euch helfen kann, und vielleicht könnt Ihr mir dann auch erklären, warum sich so viele Meervolk-Schiffe in der Bucht befinden, die weder anlegen noch Handel treiben... «
Bei Tee und Gesprächen verging die Zeit auf angenehme Weise. Dann wurde Beslan hereingeführt, ein leise sprechender Junge, der sich respektvoll verbeugte und sie mit wunderschönen schwarzen Augen ansah, die wohl Erleichterung zeigten, als seine Mutter ihn schließlich wieder entließ. Er hatte offensichtlich keinen Moment bezweifelt, daß sie Aes Sedai waren. Später kehrten Elayne und Nynaeve durch die leuchtend bemalten Gänge in ihre Räume zurück.
»Also wollen sie selbst die Suche übernehmen«, murmelte Nynaeve, während sie sich umsah, um sicherzugehen, daß keiner der livrierten Diener nahe genug war, sie hören zu können. Tylin hatte zu bald zu vieles über sie gewußt. Und auch wenn sie gelächelt hatte, war sie doch wegen der Aes Sedai in Salidar aufgebracht. »Elayne, glaubst du, es war klug, ihr alles zu erzählen? Sie könnte zu dem Schluß kommen, daß sie ihrem Sohn den Thron sichern könnte, wenn sie uns die Schale finden läßt und es dann Teslyn erzählt.« Sie erinnerte sich nur ungenau an Teslyn. Sie war eine Rote und eine unangenehme Frau.
»Ich weiß, wie meine Mutter über Aes Sedai dachte, die Andor bereisten und sie niemals wissen ließen, was sie taten. Ich weiß, wie ich mich an Tylins Stelle fühlen würde. Außerdem erinnerte ich mich jetzt daran, was dieses Sprichwort bedeutet — sich auf dem Dolch ausruhen und so weiter. Die einzige Möglichkeit, jemanden zu beleidigen, der dies zu dir sagt, besteht darin, ihn anzulügen.« Elayne hob leicht das Kinn an. »Was Vandene und Adeleas betrifft, so glauben sie nur, sie hätten die Suche übernommen. Dieser Rahad mag zwar gefährlich sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er schlimmer ist als Tanchico, und wir brauchen uns den Kopf nicht mehr über die Schwarze Ajah zu zerbrechen. Ich wette, daß wir die Schale in zehn Tagen haben werden. Und dann werde ich wissen, was es mit Mats Ter'angreal auf sich hat. Wir werden wieder zu Egwene unterwegs sein, während er sich vor die Stirn schlägt und Vandene und Adeleas mit Merilille und Teslyn herauszufinden versuchen, was geschehen ist.«
Nynaeve konnte nicht umhin, laut aufzulachen. Ein schlaksiger Diener, der eine große Porzellanvase verrückte, sah sie an, und sie streckte ihm die Zunge heraus. Er ließ die Vase beinahe fallen. »Ich nehme die Wette nur bezüglich Mat an. Zehn Tage gelten.«
49
Der Spiegel der Nebel
Rand zog zufrieden an seiner Pfeife, während er in Hemdsärmeln mit dem Rücken an einer der schlanken weißen Säulen lehnte, die den kleinen Hof umgaben, und beobachtete das aufsprühende Wasser im Springbrunnen, das im Sonnenlicht wie Edelsteine funkelte. Während des Vormittags lag dieser Teil des Hofes noch im Schatten. Sogar Lews Therin verhielt sich ruhig. »Bist du sicher, daß du nicht noch einmal über Tear nachdenken willst?«
An der nächsten Säule lehnend und ebenfalls ohne Umhang, blies Perrin zwei Rauchringe in die Luft, bevor er seine Pfeife wieder in den Mund steckte, eine reich mit Wolfsköpfen verzierte Pfeife. »Was ist mit Mins Vision?«
Rands Versuch, selbst einen Rauchring in die Luft zu blasen, wurde durch ein ungehaltenes Brummen verdorben, so daß nur noch ein Rauchwölkchen hervordrang. Min hatte kein Recht gehabt, dieses Thema in Perrins Gegenwart anzusprechen. »Willst du wirklich an mich gebunden sein, Perrin?«
»Anscheinend zählt das, was ich will, nicht mehr viel, seit wir Moiraine in Emondsfeld wiederbegegnet sind«, erwiderte Perrin trocken. Er seufzte. »Du bist, wer du bist, Rand. Wenn du scheiterst, scheitert alles.« Plötzlich beugte er sich vor und blickte stirnrunzelnd zu einem breiten Eingang hinter den Säulen zu ihrer Linken.
Etwas später hörte Rand aus dieser Richtung Schritte, die für einen Menschen zu wuchtig klangen.
Die breite Gestalt, die gebückt durch den Eingang in den Hof trat, war mehr als doppelt so groß wie die Dienerin, die fast laufen mußte, um mit den Schritten des Ogiers mithalten zu können.
»Loial!« rief Rand aus, während er sich eilig erhob. Rand und Perrin erreichten den Ogier zusammen. Das Grinsen um Loials breiten Mund schien sein Gesicht in zwei Hälften zu spalten, und sein langer Umhang, der sich über herabgerollte kniehohe Stiefel breitete, war von der Reise staubbedeckt. Seine großen Taschen beulten sich eckig aus. Wo Loial war, waren Bücher nie weit. »Geht es dir gut, Loial?«
»Du siehst müde aus«, sagte Perrin und drängte den Ogier auf den Springbrunnen zu. »Setz dich auf die Umrandung.«
Loial ließ sich hinführen, aber seine langen, herabbaumelnden Augenbrauen stiegen in die Höhe, und seine Pinselohren zitterten verwirrt, während er von einem zum anderen sah. Er war im Sitzen noch genauso groß wie Perrin im Stehen. »Gut? Müde?« Seine Stimme klang wie das Rumpeln bei Erdverschiebungen. »Natürlich geht es mir gut. Und müde bin ich nur, weil ich einen langen Weg gegangen bin.
Ich muß sagen, es fühlte sich gut an, wieder auf den eigenen Füßen zu laufen. Man weiß immer, wohin die Füße einen tragen, während man bei einem Pferd niemals sicher sein kann. Außerdem sind meine Füße schneller.« Er lachte jäh und polternd. »Du schuldest mir ein Goldstück, Perrin. Du und deine zehn Tage. Ich verwette ein weiteres Goldstück darauf, daß ihr nicht länger als fünf Tage vor mir hier wart.«
»Du bekommst dein Goldstück.« Perrin lachte. Dann fügte er als Nebenbemerkung zu Rand, die Loials Ohren erzürnt erbeben ließ, hinzu: »Gaul hat ihn vollkommen verdorben. Er würfelt jetzt und wettet bei Pferderennen, obwohl er kaum ein Pferd vom anderen unterscheiden kann.«
Rand grinste. Loial hatte Pferde schon immer mißtrauisch betrachtet, was nicht sehr verwunderlich war, wenn man bedachte, daß seine Beine länger als ihre waren. »Geht es dir auch bestimmt gut, Loial?«
»Hast du dieses verlassene Stedding gefunden?« fragte Perrin um seinen Pfeifenstiel herum.
»Bist du ausreichend lange geblieben?«