Als Sorilea und die anderen widerwillig beschlossen, daß Rand nur Ruhe brauchte, und mit der Anweisung gingen, er solle dafür sorgen, daß er diese Ruhe auch bekäme, machte es sich Min wieder auf seinem Schoß bequem. »Sie sprechen in Träumen?« fragte sie kopfschüttelnd. »Es scheint unmöglich, wie einem Märchen entnommen.« Sie runzelte die Stirn. »Was glaubst du, wie alt Sorilea ist? Und diese Colinda. Ich habe gesehen... Nein, es hat nichts mit dir zu tun. Vielleicht beeinträchtigt mich die Hitze. Wenn ich es weiß, dann weiß ich es immer. Es muß die Hitze sein.« Ein schelmisches Leuchten trat in ihre Augen, und sie beugte sich langsam näher zu ihm und schürzte die Lippen wie zu einem Kuß. »Wenn du deine Lippen auch so spitzen würdest«, murmelte sie, als ihre Lippen seine fast schon berührten, »wäre das vielleicht hilfreich. In diesem letzten Stück schienen Sätze aus ›Der Pfau im Eukalyptusbaum‹ verwendet worden zu sein.« Es dauerte einen Moment, bis er verstand, während ihre Augen seine Vision widerspiegelten, aber als er verstand, mußte sein Gesicht einen erstaunlichen Anblick geboten haben, weil sie lachend auf seine Brust sank.
Kurz darauf traf eine Nachricht von Coiren ein, die sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte, ihm wünschte, daß er nicht krank sei, und anfragte, ob sie ihn mit zweien ihrer Schwestern besuchen dürfe. Sie bot das Heilen an, falls er es wünschte. Während Rand las, regte sich Lews Therin, als erwache er aus tiefern Schlaf, aber dieses vage unzufriedene Murren ähnelte kaum seinem in Caemlyn empfundenen Zorn, und er schien wieder einzuschlafen, als Rand den kurzen Brief niederlegte.
Dieser Brief stand in krassem Gegensatz zum Verhalten Meranas, und er erinnerte ihn daran, daß um die Mittagszeit im Sonnenpalast nichts geschah, über das Coiren nicht noch vor Sonnenuntergang —wenn nicht schon früher — umfassend unterrichtet war. Er antwortete mit einem höflichen Dank für ihre guten Wünsche und einer ebenso höflichen Absage. Er fühlte sich noch immer müde, und er wollte seinen Verstand beisammen haben, wenn er einer Aes Sedai gegenübertrat. Das gehörte dazu.
Mit dem gleichen Antwortschreiben bat er Gawyn um einen Besuch. Rand war Elaynes Bruder erst einmal begegnet, aber er mochte den Mann. Gawyn kam jedoch nicht und reagierte auch nicht auf die Aufforderung. Rand entschied traurig, daß Gawyn die Gerüchte über seine Mutter wohl glaubte. Es war nicht leicht, einen Menschen von dieser Überzeugung abzubringen. Diese Geschichte beeinträchtigte Rands Stimmung dermaßen, wann immer er daran dachte, daß selbst Min an der Aufgabe zu verzweifeln schien, ihn aufmuntern zu wollen. Weder Perrin noch Loial blieben bei ihm, wenn er in dieser Stimmung war.
Drei Tage später kam eine weitere Anfrage von Coiren, genauso höflich gehalten, und eine dritte folgte wiederum Tage später, aber er beschied auch diese mit Ausflüchten.
Alanna. Er spürte sie noch immer fern und nur vage, aber sie kam ständig näher; was nicht überraschend war. Er war überzeugt gewesen, daß Merana sie als eine der sechs auswählen würde. Er hatte nicht die Absicht, Alanna näher als eine Meile und keinesfalls in Sichtweite an sich herankommen zu lassen, aber er hatte gesagt, er würde sie auf gleiche Stufe mit Coiren stellen, und er hatte es auch so gemeint. Also würde Coiren noch eine Weile geduldig ausharren müssen. Außerdem war er in gewisser Weise beschäftigt.
Ein Abstecher in die Schule in Barthanes ehemaligem Palast dauerte letztendlich länger als geplant. Idrien Tarsin wartete erneut an der Tür, um ihm alle Arten von Erfindungen und Entdeckungen zu zeigen, die oft unverständlich waren, sowie die Werkstätten, in denen jetzt verschiedene neue Pflüge und Eggen und Mähmaschinen zum Verkauf gefertigt wurden, aber das Problem war Herid Fei. Oder auch Min. Feis Gedanken wanderten wie üblich, seine Zunge wanderte ihnen hinterher, und er vergaß einfach, daß Min dabei war. Er vergaß sie etliche Male. Aber gerade als Rand den Mann darauf aufmerksam machen wollte, bemerkte Fei sie plötzlich zum ersten Mal wieder und erschrak sichtlich. Er entschuldigte sich bei ihr ständig für die halb angerauchte Pfeife, die er dennoch stets anzuzünden vergaß, klopfte sich beharrlich Asche von seinem dicken Bauch und glättete immer wieder sein dünnes graues Haar. Min schien es zu gefallen, obwohl Rand nicht annähernd verstand, wie Min Gefallen an einem Mann finden konnte, der ihre Anwesenheit vergaß. Sie küßte Fei sogar auf den Kopf, als sie und Rand sich erhoben, um zu gehen, was den Mann wie erschlagen wirken ließ. Es half ihm allerdings nicht sehr dabei, von Fei zu erfahren, was er über die Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs oder über die Letzte Schlacht herausgefunden hatte.
Am nächsten Tag erreichte ihn eine auf ein abgerissenes Stück Pergament gezwängte Nachricht.
Glaube und Ordnung verleihen Kraft. Muß den Schutt beseitigen, bevor Ihr bauen könnt. Werde es bei unserer nächsten Begegnung erklären. Bringt Mädchen nicht mit. Zu hübsch!
Die Nachricht war hastig dahingekritzelt, und die Unterschrift in die Ecke gequetscht worden, und sie ergab für Rand keinen Sinn. Als er Fei jedoch erneut zu erreichen versuchte, erfuhr er, daß der Mann zu Idrien gesagt hatte, er fühle sich wieder jung und ginge fischen. Mitten in einer Dürre. Rand fragte sich, ob der alte Mann den Verstand verloren hatte. Min fand die Nachricht natürlich belustigend. Sie fragte, ob sie das Pergament haben könne, und er ertappte sie mehrere Male dabei, wie sie es lächelnd betrachtete.
Ob mit oder ohne Verstand — Rand beschloß, daß er Min beim nächsten Mal zurücklassen würde, aber in Wahrheit war es auch schwierig, sie in seiner Nähe zu behalten, wenn er sie begehrte: Sie schien mehr Zeit mit den Weisen Frauen als mit ihm zu verbringen. Er konnte nicht verstehen, warum ihn das so ärgerte, aber er bemerkte, daß er geneigt war, andere eher zurechtzuweisen, wenn Min sich bei den Zelten aufhielt. Es war besser, daß sie nicht zu oft bei ihm war. Die Leute würden es merken, darüber reden und sich wundern. In Cairhien, wo sogar die Diener ihre Version des Spiels der Häuser spielten, konnte es für Min gefährlich werden, wenn sich die Menschen fragten, ob sie wichtig war. Er versuchte, niemanden mehr zurechtzuweisen.
Natürlich wollte er von Min, daß sie die Adligen mit ihrer Gabe betrachtete, die nacheinander zu ihm kamen und nach seinem Wohlbefinden fragten — jene, die die Knie beugten, mußten die Gerüchte in Umlauf gebracht haben —, lächelten und ihn fragten, wie lange er dieses Mal in Cairhien zu bleiben beabsichtigte, welche Pläne er hätte, wenn sie fragen dürften, noch stärker lächelten, immer lächelten. Der einzige, der ihn nicht bewußt anlächelte, war Dobraine, der seinen Schädel noch immer wie ein Soldat rasiert hatte und noch immer die Streifen auf dem durch den Brustharnisch zerschlissenen Umhang trug. Dobraine stellte so verdrießlich genau dieselben Fragen, daß Rand über seinen Weggang fast glücklicher war als bei den anderen.
Min gelang es, bei jenen Anhörungen dabeizusein, sich diese Zeit zu nehmen zwischen dem, was auch immer sie bei den Weisen Frauen tat. Rand hatte nicht die Absicht, sie danach zu fragen. Es war jedoch nicht so einfach, sie verborgen zu halten.
»Ich könnte doch vorgeben, deine Dirne zu sein«, schlug Min lachend vor. »Ich würde auf deinem Schoß posieren und dich mit Trauben füttern — nun, mit Rosinen; ich habe seit einiger Zeit keine Trauben mehr gesehen —, und du nennst mich deine kleine Honiglippe. Dann würde sich niemand fragen, warum ich hier wäre.«
»Nein«, fauchte er, und sie wurde ernst.
»Glaubst du wirklich, die Verlorenen würden mich nur deswegen verfolgen?«
»Vielleicht«, antwortete er genauso ernst. »Ein Schattenfreund wie Padan Fain würde es tun, wenn er noch lebt. Das will ich nicht riskieren, Min. Und ich will auf keinen Fall, daß diese Cairhiener oder auch die Tairener mit ihren schmutzigen Vorstellungen so von dir denken.« Die Aiel waren anders. Sie hielten ihre Neckereien für sehr spaßig.