Min war sicherlich wankelmütig. Ihr Gesichtsausdruck konnte sich schlagartig von purer Ernsthaftigkeit in ein Strahlen verwandeln, in ein vollkommenes Lächeln, das kaum einen Moment wich. Bis die Anhörungen tatsächlich begannen.
Es mißlang, Min in einer Ecke des Vorraums hinter einem Paneel aus vergoldetem Gitterwerk zu verbergen. Maringils dunkel schimmernde Augen vermieden es so angestrengt hinzusehen, daß Rand erkannte, daß der Mann den Sonnenpalast vollkommen auseinandernehmen würde, um herauszufinden, was sich hinter dem Paneel verbarg. Der Wohnraum erwies sich als bessere Möglichkeit, weil Min durch die rissigen Türen in den Vorraum spähen konnte. Nicht jeder Besucher zeigte ihr während der Anhörung seine Aura, aber was sie sah, war freudlos. Maringil, weißhaarig, messerscharf und kalt wie Eis, würde durch einen Dolch sterben. Colavaere, deren außerordentlich hübsches Gesicht ruhig und gefaßt war, als sie erfuhr, daß Aviendha dieses Mal nicht bei Rand war, würde durch den Strang sterben. Meilan mit dem Spitzbart und der tranigen Stimme würde durch Gift sterben. Die Zukunft forderte einen hohen Tribut von den edlen Herren von Tear. Aracome und Maraconn und Gueyam würden alle einen blutigen Tod in einer Schlacht sterben. Min sagte, sie hätte noch niemals zuvor so häufig den Tod gesehen.
Als sie an ihrem fünften Tag in Cairhien Blut auf Gueyams breitem Gesicht sah, fühlte sie sich bei dem Gedanken so schlecht, daß Rand sie sich hinlegen hieß und Sulin feuchte Tücher brachte, die sie ihr auf die Stirn legte. Dieses Mal saß er auf der Matratze und hielt ihre Hand. Sie klammerte sich daran fest.
Ihre Neckereien gab sie jedoch nicht auf. Die beiden Gelegenheiten, bei denen er sich ihrer Anwesenheit vollkommen sicher sein konnte, waren Schwertübungen mit den besten tairenischen und cairhienischen Soldaten und Raufereien mit Rhuarc oder Gaul. Min ließ dann unausweichlich einen Finger über seine bloße Brust gleiten und machte irgendeinen Scherz über Schafhirten, die nicht schwitzten, weil sie daran gewöhnt seien, genauso dicke Wolle wie ihre Schafe zu tragen. Manchmal berührte sie auch die niemals ganz heilende Narbe an seiner Seite, diesen Kreis hellrötlicher Haut, aber anders, sanfter. Darüber scherzte sie niemals. Sie kniff ihm ins Gesäß — bestürzenderweise mußte man sagen, daß sie es zumindest tat, wenn andere Leute in der Nähe waren; Töchter des Speers und Weise Frauen krümmten sich jedesmal vor Lachen, wenn er hochschrak —, schmiegte sich auf seinen Schoß, küßte ihn bei jeder Gelegenheit und drohte sogar damit, ihm in der Badewanne den Rücken zu schrubben. Als er so tat, als weine und stammele er, lachte sie und sagte, es sei nicht sehr überzeugend.
Min ließ jedoch nur zu schnell von ihm ab, wenn eine Tochter des Speers den Kopf durch die Tür streckte, um jemanden anzukündigen, besonders wenn es Loial war, der niemals lange blieb und unentwegt von der Königlichen Bibliothek sprach, oder Perrin, der meist noch kürzer blieb und aus irgendeinem Grund zunehmend erschöpft wirkte. Aber am schnellsten sprang Min auf, wenn Faile zufällig dabei war. Die beiden Male, als das geschehen war, hatte sich Min hastig eines der Bücher genommen, die Rand in seinem Schlafraum aufbewahrte, hatte sich hingesetzt und vorgegeben zu lesen, wobei sie das Buch irgendwo in der Mitte aufgeschlagen hatte, als lese sie schon einige Zeit. Rand verstand die kühlen Blicke nicht, welche die beiden Frauen wechselten. Es war nicht wirklich Feindseligkeit oder auch nur Unfreundlichkeit, aber Rand vermutete, daß der Name der jeweils anderen ganz oben stünde, wenn beide eine liste derer anlegen sollten, mit denen sie lieber keine Zeit verbringen wollten.
Rand schmunzelte, als sich das Buch, das Min beim zweiten Mal gegriffen hatte, als ledergebundene Erstausgabe von Daria Gahands Abhandlungen über die Vernunft herausstellte, die er schwer verständlich gefunden hatte und zur Bibliothek zurückschicken wollte, sobald Loial das nächste Mal hereinschaute. Tatsächlich las Min noch eine Weile weiter, nachdem Faile gegangen war, und obwohl sie beim Lesen die Stirn runzelte und vor sich hin murmelte, nahm sie das Buch am Abend mit in ihre Räume im Gästetrakt.
Wenn auch zwischen Min und Faile kühle Gleichgültigkeit herrschte, war zwischen Min und Berelain keinerlei Feindseligkeit zu spüren. Als Somara am zweiten Nachmittag Berelain ankündigte, legte Rand seinen Umhang an, ging in den Vorraum und stellte den hohen, vergoldeten Stuhl aufs Podest, bevor er Somara befahl, sie hereinzulassen. Min begab sich jedoch nur widerwillig in den Wohnraum. Berelain rauschte herein, schön wie immer, in einem weichen blauen Gewand, das auch genauso tief ausgeschnitten war wie immer —und ihr Blick fiel auf Min in ihrem hellrötlichen Umhang und der gleichfarbigen Hose. Mehrere lange Augenblicke hätte Rand genausogut nicht vorhanden sein können. Berelain betrachtete Min offen von Kopf bis Fuß. Min vergaß den Wohnraum; sie stemmte die Hände in die Hüften, stand mit einem gebeugten Knie da und betrachtete Berelain genauso offen. Sie lächelten einander an. Rand glaubte, ihm stünden die Haare zu Berge, während sie dies taten. Er wurde an zwei fremde Katzen erinnert, die gerade entdeckt hatten, daß sie in demselben kleinen Raum eingesperrt waren und offensichtlich beschlossen hatten, daß es jetzt keinen Sinn mehr hatte, sich zu verstecken. Min ging — oder besser gesagt: schwebte; es gelang ihr tatsächlich, Berelains Gang wie den eines Jungen wirken zu lassen! — zu einem Sessel und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen und noch immer lächelnd hin. Licht, wie diese Frauen lächelten.
Schließlich wandte sich Berelain zu Rand um, breitete ihre Röcke weit aus und vollführte einen tiefen Hofknicks. Er hörte Lews Therin in seinem Kopf brummen, der den Anblick einer außerordentlich schönen Frau, die ihre Reize überaus großzügig darbot, genoß. Rand schätzte ebenfalls, was er sah, obwohl er sich fragte, ob er zumindest solange fortschauen sollte, bis sie sich wieder aufgerichtet hätte, aber er hatte sich bereits aus einem bestimmten Grund auf das Podest gestellt. Er versuchte, seine Stimme sowohl vernünftig als auch fest klingen zu lassen.
»Rhuarc hat angedeutet, daß Ihr Eure Pflichten vernachlässigt, Berelain. Anscheinend hieltet Ihr Euch tagelang in Euren Räumen verborgen, nachdem ich das letzte Mal hier war. Ich hörte, daß ein ernsthaftes Gespräch notwendig war, um Euch wieder hervorzulocken.« Es waren nicht genau Rhuarcs Worte, aber Rand hatte diesen Eindruck gewonnen. Ihre Wangen färbten sich karmesinrot, wodurch Rand sich bestätigt fühlte. »Ihr wißt, warum Ihr hier die Befehlsgewalt habt. Ich kann keine Cairhiener gebrauchen, die sich auflehnen, weil sie glauben, ich hätte ihnen einen Aiel vor die Nase gesetzt.«
»Ich war ... besorgt, mein Lord Drache.« Trotz des Zögerns und der geröteten Wangen klang ihre Stimme gefaßt. »Seit die Aes Sedai gekommen sind, sprießen die Gerüchte. Darf ich fragen, wer hier, Eurer Meinung nach, tatsächlich regieren soll?«
»Elayne Trakand. Die Tochter-Erbin von Andor und jetzt die Königin von Andor.« Zumindest bald. »Ich weiß nicht, welche Gerüchte Ihr meint, aber kümmert Euch besser darum, die Dinge in Cairhien in Ordnung zu bringen, und überlaßt mir die Aes Sedai. Elayne wird Euch dankbar dafür sein, was Ihr hier leistet.« Min schnaubte verächtlich.
»Sie ist eine gute Wahl«, sagte Berelain nachdenklich. »Ich glaube, die Cairhiener werden sie anerkennen und vielleicht sogar auch die Aufständischen in den Bergen.« Das war erfreulich zu hören. Berelain konnte Strömungen im Land gut beurteilen, vielleicht genauso gut wie jede Cairhienerin. Sie atmete tief ein, woraufhin Lews Therin sein Gebrumm unterbrach. »Was die Aes Sedai betrifft — ein Gerücht besagt, sie wären gekommen, um Euch zur Weißen Burg zu geleiten.«