Er konnte nur noch seine Augen bewegen. Sein Blick glitt zu den Dienerinnen hinüber, die sich an einer der Kisten zu schaffen machten. Sie stand offen, und jetzt nahmen sie eine flache Schale heraus. Einige dieser Gesichter wirkten jung, aber die anderen... Erst jetzt erkannte er, daß sie alle Aes Sedai waren, aber die fünf jungen Frauen waren es erst so kurz, daß ihre Gesichter die Alterslosigkeit noch nicht angenommen hatten, fünf, die ihn ansahen und sein Mißtrauen beschwichtigten, während die anderen ihre Gesichter verbargen. Fünfzehn Aes Sedai. Dreizehn waren nötig, um sich zu verbinden und ein Schild zu bilden, das kein Mensch zerbrechen konnte, und zwei waren nötig, um ihn festzuhalten. Dreizehn waren nötig, um... Lews Therin floh schreiend.
Galina nahm Rand kopfschüttelnd das Drachenszepter aus der Hand. »Jetzt übernehme ich das Kommando, Coiren.« Sie sah ihn nicht einmal an. Er hätte genausogut ein Teil des Stuhls sein können. »Wir haben vereinbart, daß die Rote Ajah das Kommando übernehmen würde, wenn es hierzu käme.« Sie reichte der anderen schwarzhaarigen Frau in Grau das Drachenszepter. »Hinterlege dies irgendwo, Katerine. Es könnte ein interessantes Andenken für die Amyrlin abgeben.«
Die Rote Ajah. Schweiß rann Rands Gesicht herab. Wenn jetzt nur die Töchter des Speers hereinkämen oder die Weisen Frauen oder Sulin oder irgend jemand, der einen Warnruf ausstoßen und den Palast aufrütteln könnte. Dreizehn Aes Sedai, und die Rote Ajah hatte das Kommando. Wenn er den Mund hätte öffnen können, hätte er wie ein Wolf geheult.
Bain schaute überrascht auf, als sich die Türen öffneten — Rand al'Thor hatte die Aes Sedai erst vor kurzer Zeit empfangen — und wandte den Blick ab, als sie die Dienerinnen die Kisten herausbringen sah. Eine der schwarzhaarigen Aes Sedai pflanzte sich vor ihr auf, und Bain richtete sich eifrig von ihrem Lager an der Tür auf. Sie wußte nicht, was sie von der Geschichte halten sollte, welche die anderen Töchter des Speers ihr in Caemlyn erzählt hatten, über die Dinge, die einst nur Häuptlinge und Weise Frauen gewußt hatten, aber die dunklen Augen dieser Frau schienen alles darüber zu wissen, wie die Aiel seit so langer Zeit versagt hatten. Jene Augen hielten Bains Blick fest, bis sie sich der anderen dunkelhaarigen Aes Sedai, die Chiad gegenüberstand, und der eingebildeten Aes Sedai, die die anderen Frauen mit den Kisten den Gang hinab davonführte, nur noch vage bewußt war. Bain fragte sich, ob die Aes Sedai, die ihr gegenüberstand, sie für das Versagen der Aiel töten wollte. Bestimmt hätten sie damit schon früher begonnen, wenn sie es beabsichtigten, und die dunklen Augen dieser Frau schimmerten mit einer Härte, die den Tod anzukündigen schien. Bain hatte keine Angst vor dem Sterben. Sie hoffte nur, daß sie noch Zeit genug hätte, sich vorher zu verschleiern.
»Anscheinend ist der junge Herr al'Thor es gewohnt, nach Cairhien zu kommen und wieder zu gehen, wie er will«, sagte die Aes Sedai mit einer Stimme, die felsenhart klang. »Wir sind es nicht gewohnt, daß jemand einfach ungehobelt vor uns davonläuft. Wenn er während der nächsten Tage zum Palast zurückkommt, werden wir ebenfalls zurückkehren. Wenn nicht... Unsere Geduld ist nicht grenzenlos.« Sie schwebte davon, sie und die anderen, hinter den Frauen mit den Kisten her.
Bain wechselte schnell Blicke mit Chiad, und dann eilten sie in al'Thors Räume.
»Was meint Ihr damit, daß er fort ist?« fragte Perrin, Loials Ohren zuckten in seine Richtung, aber der Ogier hielt den Blick genauso fest auf das Steinbrett gerichtet wie Faile. Sie roch... Perrin konnte in dem Gewirr der von ihr ausströmenden Gerüche nichts Bestimmtes ausmachen. Dieses Gewirr machte ihn wahnsinnig.
Nandera zuckte nur die Achseln. »Er tut das manchmal.« Sie schien gelassen, die Arme verschränkt und das Gesicht ruhig, aber sie roch verärgert. »Er verschwindet, ohne daß auch nur eine Tochter des Speers ihn beschützt, manchmal sogar einen halben Tag lang. Er glaubt, wir merkten es nicht. Ich dachte, Ihr würdet vielleicht wissen, wo er hingegangen ist.« Etwas in ihrer Stimme führte Perrin zu dem Glauben, daß sie Rand zu folgen beabsichtigte, wenn sie es herausfände.
»Nein«, seufzte er. »Ich habe keine Ahnung.«
»Achtet auf das Spiel, Loial«, murmelte Faile. »Ihr wolltet Euren Stein doch sicherlich nicht dort platzieren.«
Perrin seufzte erneut. Er hatte beschlossen, heute jeden Moment des Tages an Failes Seite zu bleiben. Sie würde früher oder später mit ihm sprechen müssen, und außerdem würde Berelain ihn sicherlich in Ruhe lassen, wenn er bei seiner Frau war. Nun, Berelain hatte ihn wirklich in Ruhe gelassen, aber sobald Faile erkannte, daß er nicht wieder auf die Jagd gehen würde, hatte sie Loial aufgehalten, bevor er zur Bibliothek davonlaufen konnte, und seitdem spielten sie schweigend ihr Spiel endlos weiter. Perrin wünschte sich dorthin, wo Rand war.
Rand lag auf dem Rücken auf einem Bett und starrte zu den dicken Kellersparren empor, ohne sie wirklich zu sehen. Das Bett war nicht groß, aber es wies zwei Federmatratzen und Kissen und saubere Leintücher auf. Es gab einen robusten Stuhl und einen kleinen Tisch, die beide einfach, aber gut gearbeitet waren. Seine Muskeln schmerzten noch vom Transport hierher in einer der Kisten. Die Macht hatte ihn leicht zusammengekrümmt, den Kopf zwischen den Knien, und einfache Kordeln hatten genügt, ihn zu einem Paket zu verschnüren.
Das Geräusch von Metall auf Metall ließ ihn den Kopf wenden. Galina hatte mit einem großen Schlüssel in dem Eisenkäfig, der Bett und Tisch und Stuhl umgab, eine Klappe geöffnet. Eine Frau mit bereits ergrauendem Haar und runzligem Gesicht streckte ihre Arme hastig in den Käfig, um ein mit einem Tuch abgedecktes Tablett auf den Tisch zu stellen, woraufhin sie sofort wieder zurücksprang.
»Ich beabsichtige Euch bei guter Gesundheit in der Burg abzuliefern«, sagte Galina kalt, während sie die Klappe wieder verschloß. »Eßt, sonst werdet Ihr gefuttert.«
Rand wandte den Blick erneut den Sparren zu. Sechs Aes Sedai saßen auf Stühlen um den Käfig herum und hielten den Schild gegen ihn aufrecht. Er behielt das Nichts bei, für den Fall, daß er ihnen entglitt, aber er sprang nicht mehr gegen die Barriere an. Als sie ihn in den Käfig gestoßen hatten, hatte er es versucht. Einige von ihnen hatten gelacht, diejenigen, die überhaupt darauf achteten. Statt dessen streckte er sich jetzt lebhaft nach dem Zorn Saidins aus, ein Sturm aus Feuer und Eis, der jenseits seines Augenwinkels gerade außer Sicht war. Er streckte sich aus, spürte, daß die unsichtbare Wand ihn von der Quelle abschnitt und glitt daran entlang, als versuche er, eine Kante zu finden. Er fand nur eine Stelle, an der sich diese Wand aus sechs einzelnen Barrieren zusammenzufügen schien. Sie hielten den Schild wirkungsvoll aufrecht.
Wie lange war er schon hier? Graue Öde hatte sich über ihn gebreitet, die Zeit verdeckt, ihn in Teilnahmslosigkeit gehüllt. Er war schon lange genug hier, um hungrig zu sein, aber das Nichts ließ die Empfindungen fern scheinen, und sogar der Geruch des heißen Eintopfs und des warmen Brotes, der dem abgedeckten Tablett entströmte, erweckte kein Interesse. Es schien zu mühsam, sich zu erheben. Bisher hatten sich zwölf Aes Sedai rund um den Käfig abgewechselt, und er hatte, bevor sie in diesen Keller kamen, keines der Gesichter jemals zuvor gesehen. Wie viele gab es in diesem Hause? Das könnte später wichtig werden. Wo war dieses Haus? Er hatte keine Ahnung, wie weit er in der Kiste transportiert worden war. Den größten Teil des Weges war er in einem Wagen oder auf einem Karren durchgerüttelt worden. Warum hatte er Moiraines Rat vergessen? Vertraue keiner Aes Sedai, keinen Fingerbreit weit, keine Haaresbreite. Sechs Aes Sedai, die genug Saidar lenken konnten, um diesen Schild aufrechtzuhalten, müßten von jeder Frau, die die Macht lenken konnte, schon draußen er spürt werden können. Es würde genügen, wenn Amys oder Bair oder sonst jemand auf der Straße vorbeiginge und sich wunderte. Sie müßten jetzt denken, er sei verschwunden, nachdem Coiren den Palast verlassen hatte. Wenn es hier draußen eine Straße gab. Das würde genügen...