Nalesean, der die Treppe herunterkam, fing Mats Blick auf, der streng genug ausfiel, um den Tairener mitten im Schritt innehalten zu lassen. Nalesean hatte Wind mit Olver als Reiter — es ritten nur Jungen — für zwei Rennen eingetragen, und Mat hatte nichts davon gewußt, bis es geschehen war. Daß sich Wind als so schnell erwiesen hatte, wie sein Name hoffen ließ, verbesserte die Sache dennoch nicht. Zwei Siege verschafften Olver den Geschmack auf mehr. »Es ist nicht Euer Fehler«, beruhigte Mat Frielle. »Steckt ihn mit meinem Segen in ein Faß, wenn es sein muß.«
Olver sah ihn vorwurfsvoll an, aber kurz darauf sauste er schon wieder herum und bedachte Frielle mit einem unverschämten Grinsen, das er irgendwo abgeschaut hatte. Es wirkte bei seinen großen Ohren und dem breiten Mund seltsam. Er würde niemals ein gutaussehender Bursche werden. »Ich werde still sitzen, wenn ich Eure Augen betrachten darf. Ihr habt wunderschöne Augen.«
Frielle trug viel von ihrer Mutter in sich, und das nicht nur bezüglich ihres Aussehens. Sie lachte melodisch und tätschelte Olver, woraufhin er errötete. Ihre Mutter und die großäugige junge Frau blickten lächelnd auf die Tischplatte.
Mat stieg kopfschüttelnd die Treppe hinauf. Er mußte mit dem Jungen reden. Er konnte nicht einfach jede Frau, die er sah, so angrinsen. Und einer Frau zu sagen, daß sie wunderschöne Augen hätte! In diesem Alter! Mat wußte nicht, wo Olver das herhatte.
Als er neben Nalesean trat, sagte der Mann: »Sie sind erneut entkommen, stimmt's?« Es war keine richtige Frage, und als Mat nickte, zog er an seinem Spitzbart und fluchte. »Ich werde die Männer zusammenrufen, Mat.«
Nerim machte sich in Mats Quartier zu schaffen, wischte den Tisch mit einem Tuch ab, als hätten die Töchter des Speers heute morgen nicht bereits staubgewischt. Er teilte sich nebenan einen kleineren Raum mit Olver und verließ die Wanderin nur selten. Ebou Dar war zügellos und unzivilisiert, behauptete er.
»Geht mein Lord aus?« fragte Nerim in klagendem Tonfall, als Mat seinen Hut hochnahm. »In diesem Umhang? Ich fürchte, auf Eurer Schulter befindet sich ein Weinfleck von letzter Nacht. Ich hätte ihn schon entfernt, wenn Mylord den Umhang heute morgen nicht so eilig umgelegt hätte, und außerdem hat der Ärmel einen Riß — von einem Messer, glaube ich —, den ich genäht hätte.«
Mat ließ sich von ihm eine graue Jacke mit Stickereien auf den Manschetten und dem hohen Kragen bringen und gab ihm statt dessen den goldverzierten Umhang.
»Ich vertraue darauf, daß Mylord heute zumindest versuchen wird, sich keinen Blutfleck einzutragen. Blut ist sehr schwer zu entfernen.«
Sie hatten sich auf diesen Kompromiß geeinigt. Mat fand sich mit Nerims düsterem Gesicht und seinen trüben Ansichten ab und ließ den Mann Dinge verrichten, die er ebenso leicht selbst hätte erledigen können. Im Gegenzug stimmte Nerim widerwillig zu, nicht ernsthaft zu versuchen, ihn tatsächlich anzuziehen.
Er überprüfte die Dolche, die unter seiner Jacke in den Ärmeln und in den herabgezogenen Schäften seiner Stiefel steckten, ließ den Speer und den Bogen ohne Sehne aber in der Ecke lehnen, ging dann hinab und trat vor das Gasthaus. Der Speer schien Dummköpfe zum Kampf zu reizen.
Trotz seines Hutes perlte, unmittelbar nachdem er aus der vergleichsweisen Kühle des Gasthauses herausgetreten war, Schweiß auf Mats Gesicht. Die Morgensonne hätte in normalen Zeiten bereits den Eindruck der Mittagszeit im Hochsommer erweckt, und der Mol-Hara-Platz war noch dazu dicht bevölkert. Mat blieb zunächst stirnrunzelnd am Tarasin-Palast stehen. Wie konnten sie ungesehen entkommen, wo doch Thom im Inneren und Vanin draußen wachten? Sie gingen fast an jedem Tag aus. Nachdem dies drei Mal geschehen war, hatte Mat dafür gesorgt, daß jede Tür dieser Masse weißen Gesteins bewacht wurde, wobei die Wächter ihre Plätze schon vor der Dämmerung einnahmen. Es waren mit ihm und Nalesean eigentlich ausreichend viele Wachen. Niemand hatte irgend etwas gesehen, und doch kam Thom unmittelbar vor der Mittagszeit heraus und verkündete, daß die Frauen irgendwie hinausgelangt seien. Der alte Gaukler schien fast außer sich und bereit, sich den Schnurrbart auszureißen. Mat wußte, was vor sich ging. Sie taten es gerade ihm zum Trotz.
Nalesean und die anderen warteten mürrisch und schwitzend und standen dicht zusammengedrängt. Nalesean betastete sein Schwertheft, als wünschte er sich heute eine Gelegenheit, es zu benutzen.
»Wir werden heute auf die andere Seite des Flusses gehen«, sagte Mat. Mehrere der Rotwaffen wechselten unbehagliche Blicke. Sie hatten die Geschichten gehört.
Vanin schüttelte den Kopf. »Zeitverschwendung«, sagte er tonlos. »Lady Elayne würde niemals an einen solchen Ort gehen. Die Aiel-Frauen vielleicht oder Birgitte, aber nicht Lady Elayne.«
Mat schloß einen Moment die Augen. Wie hatte Elayne es geschafft, einen guten Mann in so kurzer Zeit zu verderben? Er hoffte noch immer, daß Vanin mit der Zeit und fern ihres Einflusses wieder vernünftig würde, aber allmählich verlor er diese Hoffnung. Licht, wie er adlige Frauen verachtete! »Nun, wenn wir sie heute nicht sehen, können wir den Rahad vergessen —sie werden dort auffallen wie eine bemalte Lerche in einer Schar Drosseln —, aber ich beabsichtige sie auch dann zu finden, wenn sie sich unter einem Bett im Krater des Verderbens verbergen. Macht euch wie immer zu zweit auf die Suche und gebt einander Rückendeckung. Jetzt treibt einige Bootsführer auf, die uns hinüberbringen können. Verdammt, ich hoffe, daß sie nicht alle hinausgefahren sind, um den MeervolkSchiffen Obst zu verkaufen.«
Für Elayne sahen die Straßen genauso aus wie in Tel'aran'rhiod, fünf- bis sechsstöckige Ziegelsteingebäude, teilweise mit einer dünnen Schicht Mörtel bedeckt, die eng zusammenstanden und über dem unebenen Straßenpflaster aufragten. Jegliche Schatten schwanden zu dieser Tageszeit, wenn die goldene Sonne über den Köpfen brannte, vollständig aus den schmalen Gassen. Fliegen summten überall umher. Die einzigen Unterschiede zur Welt der Träume waren die vor den Fenstern hängende Wäsche, die Menschen — obwohl sich in der Mittagshitze nicht viele Leute draußen aufhielten —und der Geruch, ein äußerst stechender, kränklicher Geruch nach Verfall, der sie veranlaßte, nicht zu tief atmen zu wollen. Leider ähnelten sich alle Straßen im Rahad.
Sie legte Birgitte eine Hand auf den Arm und hieß sie anhalten, als sie ein grobes Ziegelsteingebäude erblickte, bei dem vor einigen Fenstern schmuddelige Wäsche hing. Das leise Weinen eines Babys drang von irgendwo dort drinnen heraus. Das Gebäude hatte die richtige Anzahl Stockwerke — sechs. Sie war sicher, daß es sechs gewesen waren. Nynaeve beharrte darauf, daß es nur fünf waren.
»Ich glaube nicht, daß wir hier stehenbleiben und das Haus anstarren sollten«, sagte Birgitte leise. »Die Leute schauen schon.«
Das stimmte nicht ganz, in Wahrheit sorgte sich Birgitte nur um sie. Männer ohne Hemden und häufig in zerrissenen Westen stolzierten die Straße entlang, wobei das Sonnenlicht auf ihren Messingkreolen und den mit Buntglas geschmückten Ringen glitzerte, oder sie schlichen wie Köter dahin. Die Frauen taten es ihnen in üblicherweise abgetragenen Kleidern und mit billigem Schmuck gleich. Alle trugen einen gebogenen Dolch im Gürtel und häufig auch ein einfach gearbeitetes Messer.
In Wahrheit gönnte niemand ihr und Birgitte einen zweiten Blick, obwohl Birgittes gealtertes Gesicht häufig herausfordernd wirkte und sie selbst für eine Ebou Dari groß war. Als Elayne Birgitte ansah, erblickte sie eine Frau mit feinen Fältchen in den Augenwinkeln und von Grau durchzogenem schwarzen Haar. Die Verkleidungen waren leichter zu durchschauen, je näher man dem blieb, wie ein Mensch wirklich war. Daher war auch Birgittes Haar, das ihr in vier dicken, mit grünen Bändern befestigten Flechten über den Rücken hing, erheblich länger, als jede Ebou Dari es trug, aber auch Elayne hatte ihr Haar nicht geschnitten, und niemand schien es zu beachten. Es war eine perfekte Verkleidung. Sie wünschte nur, sie müßte nicht auch schwitzen. Mit dem komplizierteren Gewebe aus Geist, das die Fähigkeit der Frauen, die Macht zu lenken, verbarg, war Elayne heute morgen auf ihrem Weg aus dem Palast direkt an Merilille vorbeigegangen. Sie trug es auch jetzt noch. Sie hatten Vandene und Adeleas mehr als einmal auf dieser Seite des Flusses gesehen.