Ihre Kleidung war natürlich nicht Teil des Gewebes, sondern es waren abgetragene Wollgewänder mit ausgefranster Stickerei an den Ärmeln und um den Halsausschnitt. Auch ihre Strümpfe waren aus Wolle und zumindest Elaynes juckten. Tylin hatte sie mit den Kleidungsstücken, verschiedenen Ratschlägen und den in Scheiden steckenden Hochzeitsdolchen versorgt. Anscheinend wurden verheiratete Frauen seltener herausgefordert als unverheiratete, und Witwen, die eine weitere Heirat ablehnten, am seltensten. Auch ihre betagte Erscheinung war hilfreich. Niemand forderte eine grauhaarige Großmutter heraus, auch wenn sie jemanden herausfordern könnte.
»Wir sollten hineingehen«, sagte Elayne, und Birgitte ging voraus, eine Hand auf dem Dolch in ihrem rauhen, braunen Wollgürtel, um die ungestrichene Tür aufzustoßen. Innen erwartete sie ein düsterer, von groben Türen gesäumter Gang, und an der entgegengesetzten Seite war eine steile, enge Treppe aus Ziegelsteinen zu sehen. Elayne unterdrückte ein erleichtertes Seufzen.
Ob man nun eine weiße Scheide mit sich führte oder nicht — ein Gebäude zu betreten, in das man nicht hineingehörte, konnte sehr wohl bedeuten, dort in eine Messerstecherei zu geraten. Auch das Fragenstellen oder Neugier konnten dies bewirken. Tylin hatte davon abgeraten, aber sie hatten bereits am ersten Tag nur durch blaue Türen gekennzeichnete Wirtshäuser betreten, um zu behaupten, sie kauften Sachen aus alten Lagerräumen auf, um sie auszubessern und weiterzuverkaufen.
Sie war mit Birgitte zusammen losgegangen und hatte Nynaeve mit Aviendha arbeiten lassen, damit sie mehr erledigen könnten. Die Schankräume waren finstere, schmutzige Orte, und bei zwei Gelegenheiten hatte Birgitte sie wieder hinausgedrängt, beide mit den Dolchen in der Hand und gerade noch rechtzeitig, bevor sie in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten. Beim zweiten Mal mußte Elayne die Macht lenken, von zwei Frauen ertappt, die nach ihnen auf die Straße traten, und Birgitte war sich sicher, daß ihnen tatsächlich den restlichen Tag über jemand gefolgt war. Nynaeve und Aviendha hatten die gleichen Schwierigkeiten, nur daß ihnen niemand folgte. Nynaeve hatte in der Tat eine andere Frau mit einem Stuhl getroffen. So wurde sogar von harmlosen Fragen abgesehen, und sie hofften nur, daß sie nicht durch eine Tür in einen Dolch hineinspazierten.
Birgitte ging die steile Treppe hinauf voran. Küchengerüche vermischten sich auf Übelkeit erregende Weise mit dem allgemeinen Gestank des Rahad. Das Baby hörte auf zu weinen, aber dafür begann irgendwo in dem Gebäude eine Frau zu schreien. Im dritten Stockwerk öffnete ein breitschultriger Mann mit entblößtem Oberkörper eine Tür, als sie gerade auf gleicher Höhe waren. Birgitte sah ihn stirnrunzelnd an, und er hob beide Hände, die Handflächen ihnen zugewandt, wich aus dem Flur wieder zurück und trat die Tür hinter sich zu. Im obersten Stockwerk, wo sich der Lagerraum hätte befinden sollen, wenn dies das richtige Gebäude war, saß eine hagere Frau in einem groben Leinenhemd auf einem Stuhl im Eingang und genoß den leisen Luftzug, während sie ihren Dolch schärfte. Sie drehte ihnen den Kopf zu, und die Klinge wurde nicht mehr über den Schleifstein gezogen. Sie wandte den Blick nicht von ihnen ab, während sie die Treppe langsam wieder hinuntergingen, und das leise Kratzen von Metall auf Stein begann erst wieder, als sie die unterste Stufe erreicht hatten. In diesem Moment atmete Elayne erleichtert aus.
Sie war überaus froh, daß Nynaeve ihre Wette nicht angenommen hatte. Zehn Tage. Sie war eine blauäugige Närrin gewesen. Dies war bereits der elfte Tag seit ihrer großspurigen Behauptung — elf Tage, in denen sie manchmal glaubte, abends in derselben Straße zu stehen wie am Morgen, elf Tage ohne einen Hinweis auf die Schale. Manchmal waren sie im Palast geblieben, einfach um ihre Gedanken zu klären. Alles war sehr enttäuschend. Wenigstens hatten Vandene und Adeleas ebensowenig Glück. Soweit Elayne es erkennen konnte, würde niemand im Rahad bereitwillig zwei Worte mit Aes Sedai wechseln. Die Leute entschwanden, sobald sie erkannten, mit wem sie es zu tun hatten. Sie hatte zwei Frauen beobachtet, die Adeleas erstechen wollten, zweifellos um die Närrin auszurauben, die im Rahad in Seidengewändern umherging, aber als die Braune Schwester die beiden auf Strängen aus Luft emporhob und durch ein Fenster im zweiten Stockwerk steckte, war niemand sonst in Sicht. Nun, sie würde nicht zulassen, daß die beiden die Schale fänden und sie ihr vor der Nase wegschnappten.
Als sie wieder auf der Straße standen, wurde Elayne noch durch etwas anderes daran erinnert, daß es im Rahad schlimmere Dinge gab als Enttäuschung. Genau vor ihr sprang ein schlanker Mann mit blutverschmierter Brust und einem Dolch in der Hand aus einem Eingang und wirbelte sofort wieder herum, um sich einem anderen Mann entgegenzustellen, der ihm folgte. Der zweite war größer und schwerer und blutete an einer Wange. Sie umkreisten einander, die Blicke ineinander verschränkt und die ausgestreckten Klingen blitzend und sich vortastend. Eine kleine Menschenmenge versammelte sich wie aus dem Boden gewachsen, um zuzusehen. Niemand kam angelaufen, aber es ging auch niemand vorbei.
Elayne und Birgitte traten auf eine Seite der Straße, aber sie gingen nicht weiter. Das hätte im Rahad Aufmerksamkeit erregt — das letzte, was sie wollten. Elayne gelang es, an den beiden Männern vorbei dorthin zu blicken, wo nur vage, verschwommene, schnelle Bewegung erkennbar war, bis sich die Bewegung plötzlich verlangsamte. Sie blinzelte und zwang sich, wieder hinzusehen. Der Mann mit der blutverschmierten Brust stolzierte umher, grinste und fuchtelte mit seiner bluttriefenden Klinge herum. Der größere Mann lag keine zwanzig Schritte entfernt mit dem Gesicht nach unten auf der Straße und keuchte schwach.
Elayne trat instinktiv näher — ihre nicht sehr ausgeprägte Fähigkeit zu Heilen war besser als nichts, wenn ein Mann verblutete, und zum Krater des Verderbens mit dem, was jedermann hier über Aes Sedai dachte —, jedoch kniete sich, bevor sie einen zweiten Schritt tun konnte, eine andere Frau neben den Mann. Sie war vielleicht ein wenig älter als Nynaeve und trug ein blaues Gewand mit rotem Gürtel, das in etwas besserem Zustand war als die meisten Gewänder im Rahad. Elayne glaubte zunächst, sie sei die Geliebte des Mannes. Niemand machte Anstalten zu gehen. Jedermann beobachtete schweigend, wie die Frau den Mann auf den Rücken drehte.
Elayne zuckte zusammen, als die Frau, statt dem Mann sanft das Blut von den Lippen zu wischen, eine Handvoll Kräuter aus ihrer Tasche nahm und ihm einige davon hastig in den Mund steckte. Bevor sie ihre Hand zurückzog, umhüllte sie das Schimmern Saidars, und sie begann die Heilenden Stränge geschickter zu weben, als Elayne es vermocht hätte. Der Mann keuchte so heftig, daß er die meisten Kräuterblätter wieder ausstieß, erschauderte — und lag dann still, die halb geöffneten Augen der Sonne zugewandt.
»Es war anscheinend zu spät.« Die Frau erhob sich und stellte sich vor den hageren Burschen. »Ihr müßt Masics Frau sagen, daß Ihr ihren Mann getötet habt, Baris.«
»Ja, Asra«, erwiderte Baris demütig.
Asra wandte sich ohne ein weiteres Wort ab, und die kleine Menschenmenge teilte sich vor ihr. Als sie in nur wenigen Schritten Entfernung an Elayne und Birgitte vorbeiging, bemerkte Elayne zwei Dinge an ihr. Das eine war ihre Kraft. Elayne spürte ihr bewußt nach. Sie erwartete ein hinreichendes Maß an Kraft vorzufinden, aber Asra wäre wahrscheinlich nicht einmal gestattet worden, den Test zur Aufgenommenen zu machen. Das Heilen mußte ihr stärkstes Talent sein — vielleicht ihr einziges, da sie eine Wilde sein mußte —und vom Gebrauch ausgezeichnet geschärft. Vielleicht glaubte sie sogar, daß diese Kräuter nötig wären. Und als zweites bemerkte Elayne das Gesicht der Frau. Es war nicht sonnengebräunt, wie sie zunächst vermutet hatte. Asra war höchstwahrscheinlich eine Domani. Was, unter dem Licht, tat eine Domani-Wilde im Rahad?