Es war eine seltsame Begegnung gewesen, erst vor wenigen Tagen, als sie Bairs Träume gesucht hatte. Bair und Melaine hatten sie im Stein von Tear getroffen. Amys hatte gesagt, sie würde Egwene nicht mehr lehren, und kam nicht. Zuerst hatte sich Egwene befangen gefühlt. Sie konnte sich nicht überwinden, ihnen zu sagen, daß sie eine Aes Sedai war, und noch viel weniger, daß sie die Amyrlin war, aus Angst, sie könnten es für eine weitere Lüge halten. Es wäre sicherlich nicht schwierig gewesen, die Stola zu dem Zeitpunkt erscheinen zu lassen. Aber da war auch noch ihr Toh gegenüber Melaine. Sie erwähnte es, während sie unaufhörlich darüber nachdachte, wie viele Meilen sie am nächsten Tag in einem Sattel verbringen müßte, aber Melaine war so voller Freude darüber, daß sie Töchter bekommen würde — sie schwärmte von Mins Vision —, daß sie nicht nur geradeheraus verkündete, Egwene habe ihr gegenüber kein Toh mehr, sondern auch sagte, sie würde eines der Mädchen Egwene nennen. Das war eine kleine Freude in einer Nacht voller Nichtigkeiten und Verärgerung gewesen.
»Sie sagten«, fuhr Egwene fort, »daß sie niemals von jemandem gehört hätten, der etwas erneut dringend zu finden versuchte, nachdem er es bereits gefunden hatte. Bair dachte, es wäre so, als würde man versuchen, denselben ... Apfel zweimal zu essen.« Bair hatte denselben Motai gesagt. Ein Motai war eine in der Wüste zu findende Raupe. Sehr süß und knusprig — bis Egwene herausfand, was sie da aß.
»Du meinst, wir können nicht in den Lagerraum zurückkehren?« Elayne seufzte. »Ich hatte gehofft, daß wir etwas falsch angefangen hätten. Oh, wir werden sie trotzdem finden.« Sie zögerte, und ihr Gewand veränderte sich erneut, obwohl sie es nicht zu bemerken schien. Es war noch immer andoranisch, aber jetzt rot, mit den Weißen Löwen von Andor geschmückt, die die Ärmel hinaufkletterten und über das Leibchen wanderten. Das Gewand einer Königin, auch ohne daß die Rosenkrone auf ihren rotgoldenen Locken prangte. Das Gewand einer Königin, aber mit einem eng anliegenden Leibchen, das vielleicht mehr preisgab, als eine andoranische Königin preisgeben würde. »Egwene, haben sie etwas über Rand gesagt?«
»Er ist in Cairhien und macht sich im Sonnenpalast eine schöne Zeit.« Egwene gelang es nur mühsam, nicht zusammenzuzucken. Weder Bair noch Melaine waren sehr entgegenkommend, aber Melaine murmelte düster etwas über Aes Sedai, während Bair sagte, daß sie alle gezüchtigt werden sollten. Was auch immer Sorilea sagte — eine einfache Züchtigung sollte genügen. Egwene befürchtete insgeheim, daß Merana falsch gehandelt hatte. Zumindest vertröstete er die Abgesandten Elaidas. Sie glaubte nicht, daß er auch nur annähernd so geschickt mit ihnen umgehen konnte, wie er selbst es glaubte. »Perrin ist bei ihm und dessen Frau. Perrin hat Faile geheiratet!« Das bewirkte erstaunte Ausrufe. Nynaeve sagte, Faile sei viel zu gut für ihn, aber sie äußerte es mit einem breiten Lächeln. Elayne meinte, sie hoffe, daß sie glücklich würden, aber sie klang aus irgendeinem Grund skeptisch. »Loial ist auch dort. Und Min. Also fehlen nur noch Mat und wir drei.«
Elayne biß sich auf die Unterlippe. »Egwene, würdest du eine ... Nachricht für Min an die Weisen Frauen weitergeben? Sie sollen ihr sagen... « Sie zögerte und biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Sie sollen ihr sagen, daß ich hoffe, daß sie Aviendha mit der Zeit genauso mögen wird wie mich. Ich weiß, daß das seltsam klingt«, fügte sie lachend hinzu. »Es ist eine persönliche Angelegenheit zwischen uns.« Nynaeve sah Elayne genauso merkwürdig an, wie sie selbst dreinschaute.
»Natürlich würde ich es tun. Aber andererseits möchte ich für längere Zeit nicht wieder mit ihnen sprechen.« Es hatte nicht viel Sinn, wenn sie so wenig über Rand preisgeben wollten. Und wenn sie den Aes Sedai gegenüber so feindselig gestimmt waren.
»Oh, es ist gut«, sagte Elayne schnell. »Es ist wirklich nicht wichtig. Nun, wenn wir die Not nicht benutzen können, dann müssen wir die Füße benutzen, und in Ebou Dar schmerzen meine gerade. Wenn es euch nichts ausmacht, werde ich zu meinem Körper zurückkehren und eine Weile richtig schlafen.«
»Geh du vor«, sagte Nynaeve. »Ich bleibe noch eine Weile.« Als Elayne verschwunden war, wandte sie sich zu Egwene um. Ihr Gewand hatte sich ebenfalls verändert, und Egwene glaubte sehr gut zu wissen, warum. Es war jetzt zartblau und tief ausgeschnitten. Blumen steckten in ihrem Haar und Bänder durchzogen ihren Zopf, wie es bei ihrer Hochzeit zu Hause wäre. Egwenes Herz flog ihr zu. »Hast du etwas von Lan gehört?« fragte Nynaeve leise.
»Nein, Nynaeve, ich habe nichts von ihm gehört. Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte dir etwas Besseres sagen. Ich weiß, daß er noch lebt, Nynaeve, und daß er dich genauso liebt, wie du ihn liebst.«
»Natürlich lebt er«, sagte Nynaeve bestimmt. »Ich würde nichts anderes zulassen. Ich beabsichtige, ihn mir zu nehmen. Er gehört mir, und ich werde nicht zulassen, daß er stirbt.«
Als Egwene erwachte, saß Siuan neben ihrem Bett, in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Ist es vollbracht?« fragte Egwene.
Ein Schimmern umgab Siuan, als sie ein kleines Wachgewebe gegen Lauscher um sie beide wob. »Von den sechs Schwestern, die seit Mitternacht wachen, haben nur drei Behüter, und jene Gaidin werden draußen Wache halten. Sie werden sich Minztee bringen lassen, mit einem kleinen Zusatz, den sie nicht bemerken sollten.«
Egwene schloß einen Moment die Augen. »Tue ich das Richtige?«
»Das fragt Ihr mich?« keuchte Siuan. »Ich habe Befehle ausgeführt, Mutter. Ich würde diesem Mann auf keinen Fall zur Flucht verhelfen, wenn es mir überlassen bliebe.«
»Sie werden ihn dämpfen, Siuan.« Egwene hatte dies bereits alles mit ihr besprochen, aber sie mußte es für sich selbst erneut aussprechen, um sich davon zu überzeugen, daß sie keinen Fehler beging. »Sogar Sheriam hört Carlinya nicht mehr zu, und Lelaine und Romanda drängen darauf. Womöglich wird sogar jemand tatsächlich tun, was Delana angedeutet hat. Ich werde keinen Mord zulassen! Wenn wir einen Mann nicht prüfen und hinrichten können, haben wir kein Recht, seinen Tod zu vereinbaren. Ich werde ihn nicht ermorden lassen, und ich kann auch nicht zulassen, daß er gedämpft wird. Wenn Merana Rand wirklich den Rücken gestärkt hat, heißt das Öl aufs Feuer zu gießen. Ich wünschte nur, ich hätte Gewißheit, daß er zu Rand geht und sich ihm anschließt, anstatt das Licht weiß wohin zu laufen, um nur das Licht weiß was zu tun. Zumindest bestünde auf diese Weise eine gewisse Möglichkeit zu ahnen, was er unternimmt.« Sie hörte, wie Siuan sich in der Dunkelheit regte.
»Ich dachte immer, die Stola wöge genauso viel wie drei gute Männer«, sagte Siuan ruhig. »Die Amyrlin hat ein paar leichte Entscheidungen zu treffen, und noch weniger, bei denen sie Gewißheit haben kann. Tut, was Ihr tun müßt, und bezahlt den Preis, wenn Ihr Euch irrt. Und manchmal auch, wenn Ihr richtig entschieden habt.«
Egwene lachte leise. »Mir scheint, als hätte ich das schon einmal gehört.« Nach einer Weile erstarb ihr Frohsinn. »Versichert Euch, daß er niemanden verletzt, wenn er geht, Siuan.«
»Wie Ihr befehlt, Mutter.«
»Das ist schrecklich«, murrte Nisao. »Wenn es bekannt wird, wird die Mißbilligung genügen, Euch ins Exil zu treiben, Myrelle. Und mich mit Euch. Vor vierhundert Jahren wäre es vielleicht alltäglich gewesen, aber heute wird niemand mehr so denken. Einige werden es als ein Verbrechen bezeichnen.«
Myrelle war froh, daß der Mond bereits untergegangen war. So blieb ihr Gesichtsausdruck verborgen. Sie konnte selbst Heilen, aber Nisao hatte sich mit der Heilung des Geistes beschäftigt, Dinge, welche die Macht nicht berühren konnte. Myrelle würde alles versuchen, was vielleicht Erfolg haben könnte. Nisao konnte sagen, was sie wollte. Myrelle wußte, daß sie sich eher die eigene Hand abhacken als diese Chance zur Weiterbildung verpassen würde.