Sie konnte ihn dort draußen in der Nacht näher kommen spüren. Sie waren noch ein gutes Stück von den Zelten entfernt, ein gutes Stück jenseits der Soldaten, und nur vereinzelte Bäume umgaben sie. Sie hatte ihn von dem Moment an gespürt, als seine bindende Kraft auf sie überging, das Verbrechen, über das sich Nisao aufregte. Die bindende Kraft eines Behüters ging ohne sein Einverständnis von einer Aes Sedai auf eine andere über. In einem Punkt hatte Nisao recht: Sie würden dieses Geheimnis so lange wie möglich bewahren müssen. Myrelle konnte seine Verletzungen spüren, von denen einige bereits fast geheilt, andere aber noch frisch waren. Und einige waren stark entzündet. Er wäre nicht vom Weg abgewichen, um den Kampf zu suchen. Er mußte so unausweichlich zu ihr kommen, wie ein Fels einen Berg hinunterrollen mußte, wenn man ihn hinabkippte. Er wäre auch nicht zu Fuß marschiert, um dem Kampf fernzubleiben. Sie hatte sein Schnelles Reisen in der Ferne im Blut gespürt, in seinem Blut. Durch Cairhien und Andor, Murandy und jetzt Altara, durch von Aufrührern und Schurken, Straßenräubern und Drachenverschworenen heimgesuchte Länder, auf sie fixiert wie ein auf das Ziel zufliegender Speer, der sich seinen Weg durch jeden bewaffneten Mann bohrte, der ihm im Weg stand. Sogar er konnte das nicht unbeschadet tun. Sie zählte seine Verletzungen im Geiste auf und wunderte sich, daß er noch lebte.
Sie hörte das Geräusch von Pferdehufen zuerst, ein steter Klang, und erst jetzt bemerkte sie das große schwarze Pferd in der Nacht. Auch der Reiter schien die Nacht zu sein. Er würde seinen Umhang tragen. Das Pferd blieb gut fünfzig Schritte von ihr entfernt stehen.
»Ihr hättet Nuhel und Croi nicht ausschicken sollen, mich zu suchen«, rief der unsichtbare Reiter mit rauher Stimme. »Ich hätte sie beinahe getötet, bevor ich erkannte, wer sie waren. Avar, Ihr könnt unbesorgt hinter diesem Baum hervorkommen.« Die Nacht schien zur Rechten in Bewegung zu geraten. Avar trug ebenfalls seinen Umhang und hatte nicht erwartet, gesehen zu werden.
»Das ist verrückt«, murmelte Nisao.
»Sei still«, zischte Myrelle. Dann rief sie mit lauterer Stimme: »Kommt zu mir.« Das Pferd rührte sich nicht. Ein Wolfshund, der seine tote Herrin beklagte, kam nicht bereitwillig zu einer neuen Herrin. Sie wob geschickt Geist und berührte den Teil von ihm, der ihre bindende Kraft enthielt. Es mußte geschickt geschehen, sonst würde er es merken, und nur der Schöpfer wußte, welche Erschütterung daraus entstehen würde. »Kommt zu mir.«
Dieses Mal ging das Pferd vorwärts, und der Mann schwang sich herab und kam die letzten Meter zu Fuß heran, ein großer Mann, dessen kantiges Gesicht im Mondlicht wie aus Stein gemeißelt schien. Dann stand er vor ihr, stand über ihr, und sie schaute in Lan Mandragorans kalte blaue Augen, und sie sah den Tod. Das Licht helfe ihr. Wie sollte sie ihn jemals lange genug am Leben erhalten?
53
Das Lichterfest
Die in den Straßen von Cairhien tanzenden Menschen ärgerten Perrin. Es war fast unmöglich hindurchzugelangen. Im Schreittanz schlängelte sich eine Kette Tanzender hinter einem großnasigen Burschen mit einer Flöte und ohne Hemd hinter ihm vorbei. Als letzte in der Reihe tänzelte eine rundliche kleine Frau, die fröhlich lachte und eine Hand von der Taille des Mannes vor ihr nahm, um zu versuchen, Perrin hinter sich in die Reihe zu ziehen. Er schüttelte den Kopf, und entweder erschreckten sie seine gelben Augen oder sein Gesichtsausdruck wirkte so grimmig, wie er es auch selbst empfand, denn sie verlor ihre Fröhlichkeit und sah ihn über die Schulter an, bis die Menge sie verbarg. Eine bereits ergrauende, aber immer noch hübsche Frau in einem dunklen, fast bis zur Taille mit farbigen Schlitzen versehenen Seidengewand schlang Perrin die schlanken Arme um den Hals und reckte den Mund hungrig zu ihm empor. Sie wirkte bestürzt, als er sie sanft unter den Armen ergriff und aus dem Weg hob. Eine Gruppe von Männern und Frauen in seinem Alter, die zu Trommelklängen tanzten, stießen gegen ihn, lachten lebhaft und zupften an seinem Umhang. Sie mißachteten sein Kopfschütteln, bis er einen der Männer schließlich heftig von sich stieß und die anderen mit dem Knurren eines Leitwolfs bedachte. Das Lachen wich einem Moment offenen Erstaunens, aber dann lachten sie erneut und versuchten, sein Knurren nachzuahmen, bevor sie fröhlich in die Menge entschwanden.
Es war der erste Tag des Lichterfests, der kürzeste Tag des Jahres, der letzte Tag des Jahres, und die Stadt feierte auf eine Art, wie es sich Perrin niemals hätte vorstellen können. In den Zwei Flüssen würden sie auch tanzen, aber so... Die Cairhiener schienen entschlossen, ein Jahr gesetzte Verhaltenheit an zwei Festtagen wieder wettzumachen. Aller Anstand war dahin und damit jede Barriere zwischen den Bürgern und den Adligen — zumindest in der Öffentlichkeit. Schwitzende Frauen in einfachen, rauhen Wollgewändern ergriffen schwitzende Männer in farbig gestreifter dunkler Seide und zogen sie in den Tanz. Männer in den Jacken der Fuhrmänner oder den Westen der Stallknechte wirbelten Frauen herum, deren Gewänder bis zur Taille farbig geschlitzt waren. Männer mit nacktem Oberkörper begossen sich und alle anderen um sich herum mit Wein. Offensichtlich durfte jeder Mann jede Frau und jede Frau jeden Mann küssen, und sie taten dies sehr ungezwungen, wohin auch immer Perrin blickte. Er bemühte sich, nicht zu genau hinzusehen. Einige der adligen Frauen mit kunstvoll aufgetürmtem gelockten Haar waren unter leichten Umhängen, die geschlossen zu halten sie sich kaum bemühten, bis zur Taille nackt. Unter den Bürgerlichen bemühten sich nur wenige Frauen, die ihre Blusen abgelegt hatten, ihren Körper mit mehr als ihrem Haar zu bedecken, und auch das nur selten ausreichend lange. Sie begossen sich selbst und jedermann sonst ausgelassen mit Wein. Ungestümes Gelächter kämpfte gegen tausend verschiedene Melodien von Flöten und Trommeln, Hörnern und Zithern und Zimbeln an.
Der Frauenkreis in Emondsfeld hätte hier hysterisch geschrien, und die dörfliche Ratsversammlung wäre vom Schlag getroffen worden, aber das verderbte Treiben war nicht vergleichbar mit Perrins Verärgerung. Nur einige Stunden, hatte Nandera gesagt, aber Rand war jetzt schon sechs Tage fort. Min war entweder mit ihm gegangen oder hielt sich bei den Aiel auf. Niemand schien etwas zu wissen. Bis auf Sorilea gaben die Weisen Frauen genauso ausweichende Antworten wie jede Aes Sedai, wenn es Perrin einmal gelang, eine von ihnen in die Enge zu treiben. Sorilea belehrte ihn offen, er solle sich um seine Frau kümmern und seine Nase aus Dingen heraushalten, die Feuchtländer nichts angingen. Er hatte keine Ahnung, woher Sorilea von den Schwierigkeiten zwischen Faile und ihm wußte, aber es kümmerte ihn nicht. Er konnte Rands Not wie ein Kribbeln überall unter der Haut spüren, und es wurde jeden Tag stärker. Jetzt kam er gerade aus Rands Schule — eine letzte Zuflucht —, aber dort war jedermann genauso mit Trinken, Tanzen und Ausschweifungen beschäftigt wie im übrigen Cairhien.
Eine Frau namens Idrien war ihm als Leiterin der Schule benannt worden, aber nachdem es ihm unter einigen Schwierigkeiten und mit nicht unerheblicher Verlegenheit gelungen war, sie beim Küssen eines jungen Mannes, der ihr Sohn hätte sein können, lange genug zu stören, um seine Frage zu stellen, konnte sie ihm nur sagen, daß vielleicht ein Mann namens Fei etwas wüßte, und Fei erwies sich als jemand, der mit drei Frauen tanzte, die seine Enkelinnen hätten sein können. Mit allen dreien auf einmal! Er schien kaum in der Lage, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern, was unter den gegebenen Umständen nicht überraschend war. Verdammter Rand! Er war ohne ein Wort davongegangen, obwohl er Mins Vision kannte und auch sehr wohl wußte, daß er Perrin verzweifelt brauchen würde. Sogar die Aes Sedai waren offensichtlich empört gewesen. Perrin hatte gerade an diesem Morgen erfahren, daß sie bereits seit drei Tagen auf dem Rückweg nach Tar Valon waren. Sie hatten gesagt, es mache keinen Sinn mehr zu bleiben. Was hatte Rand vor? Dieses Kribbeln machte Perrin zornig. Als er den Sonnenpalast erreichte, waren alle Lampen entzündet, und Kerzen brannten überall, wo man welche hinstellen konnte. Die Gänge schimmerten wie Edelsteine in der Sonne. In den Zwei Flüssen würde bis zum Sonnenaufgang am übernächsten Morgen auch jedes Haus mit jeder verfügbaren Lampe und Kerze beleuchtet sein. Die meisten der Palastdiener befanden sich auf den Straßen, und die wenigen Verbliebenen schienen genauso viel zu lachen, zu tanzen und zu singen wie zu arbeiten. Selbst hier waren manche Frauen barbusig, Mädchen, die kaum alt genug waren, daß sie in den Zwei Flüssen ihr Haar hätten flechten dürfen, und grauhaarige Großmütter gleichermaßen. Die Aiel in den Gängen wirkten angewidert, wenn sie es bemerkten, und das kam bei ihnen tatsächlich nicht allzu häufig vor. Besonders die Töchter des Speers schienen zornig, obwohl Perrin vermutete, daß ihr Unmut nichts mit den entblößten cairhienischen Frauen zu tun hatte. Die Töchter des Speers wurden, seit Rand fortgegangen war, Katzen immer ähnlicher, die aufgeregt mit dem Schwanz schlugen.