Rhuarc schaute zu Gaul und Loial zurück, die vor der Kolonne neben Dobraine und Nurelle hergingen. Sie waren sogar für Perrins feines Gehör zu weit entfernt, um über das Hufgetrappel, das Klingen des Zaumzeugs und das Knirschen der Sättel hinweg etwas verstehen zu können, aber Rhuarc sprach dennoch leise. »Fünftausend Mann aus verschiedenen Gemeinschaften, etwas mehr als fünf. Ich konnte nicht viele mitbringen. Timolan war mißtrauisch, weil ich nicht mit ihm gegen die Shaido gezogen bin. Wenn allgemein bekannt wird, daß Aes Sedai den Car'a'carn gefangenhalten, fürchte ich, daß die Trostlosigkeit uns alle verschlingen wird.« Nandera und Sulin husteten gleichzeitig laut. Die beiden Frauen sahen einander an, und Sulin wandte den Blick schließlich errötend ab. Rhuarc sah sie kurz an — er roch verärgert — und murrte: »Ich habe auch fast eintausend Töchter des Speers versammelt Hätte ich nicht durchgegriffen, wäre mir jede einzelne von ihnen mit einer Fackel in der Hand nachgerannt um der Welt mitzuteilen, daß Rand al'Thor in Gefahr ist.« Seine Stimme wurde plötzlich härter. »Jede Tochter des Speers, die uns folgen will, wird lernen müssen, daß ich meine, was ich sage.«
Sulin und Nandera wurden beide rot, was auf ihren sonnengebräunten Gesichtern verblüffte.
»Ich...«, begannen beide im gleichen Augenblick. Abermals wurden jene Blicke gewechselt, und Sulin wandte schließlich mit womöglich noch stärker gerötetem Gesicht den Blick ab. Perrin konnte sich von Bain und Chiad her — die einzigen beiden Töchter, die er wirklich kannte — nicht an all dieses Erröten erinnern. »Ich habe es versprochen«, sagte Nandera steif, »und auch jede andere Tochter hat es feierlich versprochen. Wir werden den Befehlen des Häuptlings folgen.«
Perrin versagte sich die Frage, was die Trostlosigkeit sei, ebenso wie er nicht nachfragte, wie Rhuarc die Aiel ohne Fähren über den Alguenya gebracht hatte, da doch Wasser — über das sie nicht gehen konnten —das einzige war, was Aiel aufzuhalten vermochte. Er hatte es gerne gewußt, aber die Antworten waren unwichtig. Sechstausend Aiel, fünfhundert von Dobraines Waffenträgern und zweihundert Beflügelte Wachen. Gegen sechs Aes Sedai, ihre Behüter und einige fünfhundert Wächter — das sollte genügen. Aber die Aes Sedai hielten Rand fest. Würde irgend jemand die Hand gegen sie zu erheben wagen, wenn sie ihm ein Messer an die Kehle legten?
»Da sind auch noch vierundneunzig Weise Frauen«, sagte Amys. »Sie beherrschen die Eine Macht am besten.« Sie äußerte letzteres nur widerwillig — er erinnerte sich daran, daß Aielfrauen nicht gern zugaben, daß sie die Macht lenken konnten —, aber sie sprach weiter. »Wir hätten nicht so viele mitgebracht, aber sie wollten alle mitkommen.« Sorilea räusperte sich, und jetzt errötete Amys. Er würde Gaul danach fragen müssen. Aiel waren allen anderen Menschen, denen er jemals begegnet war, so unähnlich. Vielleicht erröteten sie erst, wenn sie älter wurden. »Sorilea führt uns an«, schloß Amys, und die ältere Frau schnaubte höchst zufrieden. Und sicherlich roch sie zufrieden.
Perrin unterdrückte nur mühsam ein Kopfschütteln. Sein Wissen über die Eine Macht hätte, noch zusammen mit einem dicken Daumen, in einen Fingerhut gepaßt, aber er hatte erlebt, wozu Verin und Alanna imstande waren, und er hatte die Flamme gesehen, die Sorilea geschaffen hatte. Wenn sie eine derjenigen unter den Weisen Frauen war, welche die Macht am besten führen konnten, war er sich nicht sicher, daß sechs Aes Sedai sie nicht alle vierundneunzig zu einem Bündel verschnüren konnten. Dafür hätte er jedoch nicht die Hand ins Feuer gelegt.
»Sie müssen siebzig oder achtzig Meilen vor uns sein«, erklärte er. »Vielleicht auch hundert, wenn sie ihre Wagen vorantreiben. Wir werden uns beeilen müssen.« Während er wieder in den Sattel stieg, trabten Rhuarc und die anderen bereits weiter und den Hügel hinauf. Perrin hob die Hand, und Dobraine bedeutete den Reitern den Aufbruch. Es kam Perrin keinen Augenblick in den Sinn, sich zu fragen, warum Männer und Frauen, die alt genug waren, um seine Eltern sein zu können und die es gewohnt waren zu befehlen, ihm folgten.
Allerdings fragte er sich, wie schnell sie vorankommen würden. Aiel im Cadin'sor konnten mit den Pferden mithalten, aber er sorgte sich vor allem um die Weisen Frauen, von denen einige vielleicht bereits so alt wie Sorilea waren. Aber ob sie nun Röcke trugen oder nicht und ihr Haar weiß war oder nicht — die Weisen Frauen kamen genauso schnell voran wie alle anderen und hielten mit den Pferden mit, während sie sich in Gruppen ruhig unterhielten.
Die Straße wand sich weit sichtbar vor ihnen. Niemand begab sich während des Lichterfests auf die Reise und auch nur wenige in den Tagen davor, es sei denn, ihre Angelegenheit war so dringend wie seine. Die Sonne stieg höher, die Hügel wurden niedriger, und als sie in der Dämmerung ihr Lager errichteten, schätzte Perrin, daß sie vielleicht fünfunddreißig Meilen zurückgelegt hatten. Ein gutes Tagespensum. Ausgezeichnet für eine so große Gruppe Menschen, aber andererseits auch nur halb soviel, wie die Aes Sedai bewältigen konnten, es sei denn, sie wollten ihre Zugtiere töten. Er sorgte sich nicht mehr darum, ob er sie noch vor Tar Valon einholen könnte, sondern nur darum, was er tun konnte, wenn es soweit wäre.
Perrin lag auf seinen Decken, den Kopf auf dem Sattel, und blickte lächelnd zur Mondsichel hinauf. Wenn Wolken dagewesen wären, wäre die Nacht nicht annähernd so hell gewesen. Es war eine gute Nacht zum Jagen. Eine Gute Nacht für Wölfe.
Ein Bild gestaltete sich in seinem Geist: ein junger wilder Stier mit gelocktem Fell, stolz und mit in der Morgensonne schimmernden Hörnern. Perrin strich mit dem Daumen über die neben ihm liegende Streitaxt mit ihrer gefährlich gebogenen Klinge und dem scharfen Dorn. Die Stahlhörner von Junger Stier, wie ihn die Wölfe nannten.
Er ließ seinen Geist auf die Suche gehen, sandte das Bild in die Nacht hinaus. Dort würden Wölfe sein, und sie würden von Junger Stier wissen. Die Nachricht von einem Menschen, der mit Wölfen sprechen konnte, würde sich wie ein Lauffeuer im Land verbreiten. Perrin mußte nur zwei Wölfe treffen. Der eine ein Freund, der andere ein armer Teufel, der das Menschsein nicht hatte bewahren können. Er hatte die Geschichten über die Flüchtlinge gehört, die in die Zwei Flüsse einsickerten. Sie erzählten alte Geschichten von Männern, die sich in Wölfe verwandelten, Geschichten, die nur wenige wirklich glaubten und die erzählt wurden, um Kinder zu unterhalten. Drei behaupteten, Männer gekannt zu haben, die Wölfe wurden und verwildert waren, und wenn Perrin die Einzelheiten auch falsch erschienen waren, so war die Art, wie die beiden seine gelben Augen unbehaglich gemieden hatten, doch eine Bestätigung. Jene beiden, eine Frau aus Tarabon und ein Mann aus der Ebene von Almoth, würden nachts nicht nach draußen gehen. Sie schenkten ihm aus irgendeinem Grund Knoblauch, das er mit großem Genuß aß. Aber er versuchte nicht mehr, andere seiner Art zu finden.
Er spürte Wölfe, und ihre Namen kamen zu ihm.
Zwei Monde und Feuersturm und Alter Hirsch und Dutzende weitere stürzten auf seinen Geist ein. Es waren eigentlich nicht wirklich Namen, sondern eher Bilder und Empfindungen. Junger Stier war ein einfaches Bild, um einen Wolf zu benennen. Zwei Monde war in Wahrheit ein von der Nacht verhüllter Teich, in einem Augenblick glatt wie Eis, bevor eine Brise die Oberfläche kräuselte, Herbstgeruch in der Luft lag, ein Vollmond am Himmel stand und ein weiterer Mond so vollkommen von der Wasseroberfläche reflektiert wurde, daß es schwierig war zu bestimmen, welcher der wirkliche Mond war. Und das berührte tief.
Eine Zeitlang war da nur der Austausch von Namen und Gerüchen. Dann dachte er: Ich suche Menschen, die sich vor mir befinden. Aes Sedai und Männer mit Pferden und Wagen. Natürlich dachte er nicht genau das, nicht mehr als Zwei Monde wirklich zwei Monde war. Menschen waren ›Zweibeiner‹ und Pferde ›Vierbeiner‹. Aes Sedai waren ›zweibeinige Weibchen, die den Wind berühren, der die Sonne bewegt, und Feuer heraufbeschwören‹. Wölfe mochten Feuer nicht, und sie hüteten sich vor den Aes Sedai noch mehr als vor anderen Menschen. Es erstaunte sie, daß er eine Aes Sedai nicht erkennen konnte. Sie hielten diese Fähigkeit für genauso selbstverständlich, wie er die Fähigkeit für selbstverständlich hielt, ein weißes Pferd in einer Herde schwarzer Pferde zu finden, was sicherlich nicht erwähnenswert war. Und sicherlich nichts, was man deutlich erklären mußte.