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Er wartete gar nicht erst auf ihre Antwort, sondern führte sie in die Mitte des Saales, wo zwischen den Tischen der Länge nach ein freier Raum ausgespart worden war. Wenn er Glück hatte, würde das Tanzen ihre flinke Zunge vielleicht zum Verstummen bringen, und schließlich hatte er doch immer Glück! Außerdem hatte er noch nie von einer Frau gehört, die man durch ein Tänzchen nicht weich bekam. Tanze mit ihr, und sie wird dir viel vergeben; tanze gut mit ihr, und sie vergibt Dir alles! Das war ein sehr altes Sprichwort.

Sehr, sehr alt.

Betse hielt sich etwas zurück, biß sich auf die Lippen und sah sich nach Frau Daelvin um, doch die mollige kleine Wirtin lächelte nur und winkte Betse ermutigend zu. Dann bemühte sie sich erfolglos, einige unfolgsame Strähnen in ihren Dutt zurückzustecken, und schließlich begann sie, die anderen Serviererinnen herumzuscheuchen, als sei der ganze Schankraum voller Gäste. Frau Daelvin würde jeden Mann zusammenstauchen, dessen Benehmen sie für unanständig hielt. Trotz des friedfertigen Eindrucks, den sie erweckte, trug sie in einer Rocktasche stets einen Totschläger mit sich herum und benützte ihn gelegentlich auch. Nalesean beäugte sie immer noch mißtrauisch, wenn sie in seine Nähe kam. Doch wenn ein freigebiger Mann gern tanzen wollte, was konnte das schon schaden? Mat hielt Betses Hände, so daß ihre Arme nach beiden Seiten ausgestreckt waren. Der Platz zwischen den Tischen sollte gerade ausreichen. Die Musiker begannen, lauter zu spielen, allerdings nicht besser.

»Laßt Euch von mir führen«, sagte er zu ihr. »Die Schritte sind ganz einfach zu lernen.« Im Rhythmus der Musik begann er mit einer leichten Verbeugung, dann einen gleitenden Schritt nach rechts, den linken Fuß nachholen. Verbeugung und Schritt und Fuß nachgleiten lassen, immer mit ausgestreckten Armen.

Betse lernte schnell und war sehr leichtfüßig. Als sie die Musiker erreichten, hob er mit einer flüssigen Bewegung ihre Hände weit nach oben und wirbelte sie und sich selbst herum, daß sie Rücken an Rücken standen. Dann wieder Verbeugung, Ausfallschritt seitwärts, Fuß nachholen, herumwirbeln, ein ums andere Mal, bis sie wieder am Ausgangspunkt zurück waren. Sie paßte sich seinem Tanz geschwind an und lächelte zu ihm auf, wann immer die Drehungen ihr das gestatteten. Sie war wirklich hübsch.

»Jetzt wird's ein wenig komplizierter«, murmelte er und wandte sich so, daß sie Seite an Seite den Musikern gegenüberstanden, die Hände vor sich überkreuzt. Rechtes Knie hoch, ein leichter Kick nach rechts, dann nach rechts vorwärtsgleiten. Linkes Knie hoch, wieder ein leichter Kick nach links, dann nach links vorwärtsgleiten. Betse lachte hingerissen, als sie sich auf diese Art wieder den Musikern näherten. Mit jedem Durchlauf wurden die Schritte komplizierter, doch er mußte es ihr jeweils nur einmal zeigen, und dann tat sie es ihm gleich, lag leicht wie eine Feder bei jeder Drehung, jeder Wendung, jedem Herumwirbeln in seinen Armen. Und das Beste überhaupt war, daß sie kein Wort sagte. Die Musik packte ihn trotz der gelegentlichen Mißtöne, die Musik und das Gewebe der Tanzschritte, und Erinnerungen durchströmten ihn, als sie so über den Tanzboden vor- und zurückglitten. In diesen Erinnerungen war er einen Kopf größer, hatte einen langen, goldenen Schnurrbart und blaue Augen. Er trug einen Kurzmantel aus bernsteinfarbener Seide mit einer roten Schärpe, Manschetten aus feinsten barsinischen Spitzen und Knöpfe aus gelben Sapphiren auf der Brust, die aus Aramaelle stammten. Er tanzte mit einer dunkelhäutigen Schönheit, der Botschafterin der Atha'an Miere, des Meervolkes. An der dünnen Goldkette, die ihren Nasenring mit einem der vielen Ohrringe verband, hingen winzige Medaillons, die sie als Wogenherrin des Clans Schodin auswiesen. Es war ihm gleich, wie mächtig sie auch sein mochte; darüber sollte sich der König Gedanken machen. Einen Lord mittleren Ranges ging das nichts an. Sie war schön und lag federleicht in seinen Armen, und sie tanzten unter der großen Kristallkuppel des Hofes in Shaemal, in jener Zeit, als alle Welt neidisch auf die Pracht und die Macht Coremandas war. Andere Erinnerungen huschten am Rande vorbei und schlugen Funken aus diesem Tanz, den er so deutlich vor sich sah. Der nächste Morgen würde Nachrichten über sich ständig verstärkende Trolloc-Überfälle aus der Großen Fäule heraus bringen, und einen Monat später würde sich die Nachricht verbreiten, daß Barsine mit seinen goldenen Türmchen zerstört und gebrandschatzt worden war und daß die Horden der Trollocs weiter nach Süden stürmten. So würde die Zeit beginnen, die man später als die Trolloc-Kriege bezeichnete, wenn auch anfangs niemand an diese Bezeichnung dachte: dreihundert Jahre und mehr ununterbrochener Kämpfe, Blut, Feuersbrünste und Ruin, bis man die Trollocs zurücktrieb und die Schattenlords einen nach dem anderen tötete. So würde der Fall von Coremanda seinen Anfang nehmen, trotz allen Reichtums und aller Macht, und der von Essenia mit seinen Philosophen und den berühmten Stätten des Lernens, der Fall von Manetheren und Eharon und allen anderen der Zehn Nationen, die trotz des letztendlichen Sieges zu Trümmern zerschmettert wurden, aus denen sich später neue Länder erhoben, Länder, in denen man der Zehn Nationen nur als bloße Mythen aus einer glücklicheren Zeit gedachte. Doch das lag in der Zukunft, und während er die Gegenwart und diesen Tanz genoß, verdrängte er die Gedanken daran. Heute abend tanzte er den Tanz des Großen Musters mit...

Er blinzelte, weil ihn einen Augenblick lang der Sonnenschein überraschte, der durch die Fenster hereinfiel, und das helle, strahlende Gesicht unter einer glänzenden Schweißschicht, das zu ihm aufblickte. Beinahe wäre er bei den komplizierten Schritten mit Betses Füßen durcheinandergekommen, als sie so über den Boden wirbelten, doch er fing sich gerade so eben, bevor er sie auch noch ins Stolpern brachte. Zum Glück flogen ihm die Schritte ganz instinktiv zu. Dieser Tanz gehörte zu ihm, genau wie jene Erinnerungen, ob sie nun geborgt oder gestohlen waren, doch sie waren so übergangslos in seine eigenen, echten Erinnerungen verwoben, daß er ohne Nachzudenken keinen Unterschied mehr bemerkte. Jetzt waren es jedenfalls seine Erinnerungen, die Lücken in seinem Gedächtnis ausfüllten. Es war so, als habe er sie wirklich alle erlebt.

Es stimmte tatsächlich, was er ihr über die Narbe um seinen Hals gesagt hatte. Seines Wissens wegen aufgehängt, und gleichzeitig, weil er nicht genug wußte. Zweimal war er wie ein kompletter Narr durch einen Ter'Angreal gegangen, wie ein Dorftrottel, der das für genauso problemlos hielt, wie über eine Wiese zu laufen. Nun, für fast genauso problemlos. Die Ergebnisse hatten ihn in seinem Mißtrauen allem gegenüber, was mit der Einen Macht zu tun hatte, nur noch bestärkt. Beim erstenmal hatte man ihm erklärt, es sei sein Schicksal, zu sterben und wieder zu neuem Leben zu erwachen, und dann noch einiges, was er gar nicht hatte hören wollen. Ein paar dieser anderen Hinweise hatten ihn letztendlich zu jenem zweiten Durchschreiten eines Ter'Angreals verleitet, und das hatte ihm ein Seil um den Hals beschert.

Eine Reihe von Schritten, jeder aus gutem Grund oder auch aus purer Notwendigkeit unternommen, jeder war ihm zu dieser Zeit vollkommen vernünftig vorgekommen, und doch führte jeder zu irgendwelchen Dingen, wie er sie sich nie vorgestellt hatte. Er schien sich immer und immer wieder in dieser Art von Tanz zu drehen. Er war ganz sicher tot gewesen, als Rand ihn abschnitt und wiederbelebte. Zum hundertstenmal faßte er nun einen ganz festen Vorsatz: Von nun an würde er genau aufpassen, wohin er ging. Kein blindes Herumtappen mehr, das ihn nur über Hindernisse stolpern ließ, ohne überhaupt daran zu denken, was daraus entstehen könnte.

In Wirklichkeit hatte er an jenem Tag mehr als nur die Narbe erhalten. Beispielsweise das silberne Medaillon in Form eines Fuchskopfes mit einem einzigen, teilweise getrübten Auge, das auf diese Art wie jenes uralte Kennzeichen der Aes Sedai aussah. Manchmal lachte er derart schallend, wenn er an das Medaillon dachte, daß ihm hinterher die Rippen schmerzten. Er traute keiner Aes Sedai über den Weg, und so badete und schlief er sogar mit diesem Ding um den Hals. Die Welt war schon ein komischer Ort, und verdammt eigenartig zumeist.