Mat beachtete ihn nicht. »Ich will heute fünfunddreißig Meilen weit vorankommen. Wenn wir dann soweit sind, daß wir jeden Tag fünfunddreißig Meilen schaffen, werden wir sehen, ob wir noch schneller vorankommen können.« Natürlich starrten sie ihn mit offenen Mündern an. Pferde konnten ein solches Tempo nicht sehr lange durchhalten, und jeder außer den Aiel betrachtete fünfundzwanzig Meilen als ausgezeichneten Tagesmarsch für die Infanterie. Doch er mußte seine Karten so ausspielen, wie sie verteilt worden waren. »Comadrin hat geschrieben: ›Greift am Boden an, wenn Euer Feind nicht damit rechnet; aus einer unerwarteten Richtung und zu einem unerwarteten Zeitpunkt. Verteidigt Euch, wenn der Feind nicht daran glaubt und wenn er denkt, ihr würdet fliehen. Überraschung ist der Schlüssel zum Sieg und Geschwindigkeit ist der Schlüssel zur Überraschung. Für den Soldaten ist Geschwindigkeit gleichbedeutend mit Überleben.««
»Wer ist Comadrin?« fragte Talmanes einen Augenblick später, und Mat mußte sich zusammenreißen, um ihm zu antworten: »Ein General. Ist schon lange tot. Ich habe sein Buch einmal gelesen.« Er erinnerte sich tatsächlich daran, das Buch mehr als einmal gelesen zu haben, aber er bezweifelte, daß sich heutzutage noch ein Exemplar davon irgendwo finden ließe. Außerdem erinnerte er sich daran, Comadrin kennengelernt zu haben, nachdem er eine Schlacht gegen ihn verloren hatte, etwa sechshundert Jahre vor der Zeit Artur Falkenflügels. Diese Erinnerungen schlichen sich eben immer wieder bei ihm ein. Wenigstens hatte er diese kleine Rede nicht in der Alten Sprache geschwungen. Mittlerweile mied er für gewöhnlich solche Ausrutscher.
Mat entspannte sich langsam, als er beobachtete, wie die berittenen Kundschafter über die sanft geschwungene Flußebene ausschwärmten. Sein Anteil an diesem Plan war nun eingeleitet, ganz wie vorgesehen. Ein hastiger Aufbruch, fast unvorbereitet, so, als wolle er sich nach Süden wegschleichen, aber doch auffällig genug, um sicherzugehen, daß er bemerkt wurde. Diese Kombination würde ihn sehr töricht wirken lassen, und auch das war nur zum besten. Der Bande das schnelle Vorrücken einzutrichtern war allein schon eine gute Sache — schnelles Vorrücken konnte einen aus dem eigentlichen Kampf fernhalten —, aber ihr Weg konnte sehr gut zumindest vom Fluß aus verfolgt werden. Er suchte den Himmel ab, konnte jedoch keine Raben oder Krähen entdecken. Das wollte allerdings nicht viel heißen. Es waren auch keine Tauben zu sehen, aber sollte diesen Morgen keine Maerone verlassen haben, würde er seinen eigenen Sattel essen.
In höchstenfalls ein paar Tagen würde Sammael erfahren, daß die Bande im Anrücken war und sich beeilte. Die Befehle, die Rand unterdessen in Tear ausgegeben hatte, würden deutlich werden lassen, daß Mats Ankunft die sofortige Invasion in Illian auslöste. Auch bei der höchsten Marschgeschwindigkeit, die er der Bande zumuten konnte, würden sie doch noch mehr als einen Monat bis Tear brauchen. Mit ein wenig Glück würde Sammael wie eine Laus zwischen zwei Steinen zerquetscht bevor Mat sich dem Mann auch nur auf hundert Meilen nähern mußte. Sammael war in der Lage, alles kommen zu sehen, oder zumindest fast alles, aber es würde ein anderer Tanz werden, als er ihn erwartete. Anders als jeder andere bis auf Rand, Mat und Bashere erwartete. Darin bestand der eigentliche Plan. Mat ertappte sich dabei, wie er gut gelaunt vor sich hin pfiff. Diesmal würden sich die Dinge genau so entwickeln, wie er es erwartete.
6
Schattengewebe
Vorsichtig trat Sammael auf die Seidenteppiche mit ihrem Blumenmuster und ließ das Tor geöffnet für den Fall, daß er sich schnell zurückziehen mußte. So hielt er auch Saidin beinahe krampfhaft fest. Gewöhnlich mied er ja alle Konferenzen, die nicht auf neutralem Boden oder bei ihm selbst stattfanden, aber dies war bereits das zweite Mal, daß er hierher kam. Ein klarer Fall von Notwendigkeit. Er war nie ein Mann gewesen, der anderen leicht Vertrauen schenkte, und das hatte sich gewiß nicht geändert, seit er erfahren hatte, was sich zwischen Demandred und den drei Frauen abgespielt hatte und Graendal hatte ihm auch nur soviel anvertraut, wie nötig gewesen war, um ihm klarzumachen, inwieweit sie selbst ihre Position verbessert hatte. Er verstand das ja nur zu gut, denn auch er hatte Pläne, von denen er die anderen Auserwählten nichts wissen ließ. Es würde nur einen Nae'blis geben, und das allein war fast genausoviel wert wie die Unsterblichkeit selbst.
Er stand auf einem breiten Podest, der an einem Ende eine Marmorbrüstung aufwies, und hier hatte man Tische und Stühle — vergoldet und teils aus Elfenbein geschnitzt, wobei einige ziemlich ekelhafte Motive zeigten — so aufgestellt, daß man von ihnen aus den Rest des langen, von Säulen gestützten Saales zehn Fuß unter ihnen gut übersehen konnte. Es führten keine Stufen dort hinunter. Der Saal war wie eine riesige, extravagant ausgestaltete Grube, in der man Vorführungen zur Unterhaltung derer auf dein Podest veranstalten konnte. Sonnenschein fiel durch hohe Fenster herein, deren bunte Glasscheiben komplizierte Lichtmuster auf den Boden warfen. Die brütende Hitze, die von der Sonne ausging, war hier nicht zu spüren; die Luft war kühl, auch wenn er das nur am Rande wahrnahm. Graendal mußte sich deswegen genausowenig Mühe machen wie er, aber sie tat es natürlich. Es war ein Wunder, daß sie das Netz der Einen Macht nicht über den ganzen Palast ausgedehnt hatte.
Es war etwas anders geworden an diesem tiefergelegenen Teil des Saales, seit er das letzte Mal hierhergekommen war. Er wußte aber nicht zu sagen, worin der Unterschied lag. Drei langgestreckte, seichte Wasserbecken, jedes aus einem Brunnen gespeist, zogen sich durch die Mitte des Saales. Die Brunnenfiguren waren schlanke Gestalten, die wie eingefrorene Bewegung wirkten. Das Wasser sprang aus diesen Fontänen hoch bis fast an die aus Marmor gehauenen Rippen des Deckengewölbes. In den Becken tummelten sich Männer und Frauen, die höchstens einen Fetzen Seide oder noch weniger trugen, während an den Seiten andere, kaum mehr bekleidet, ihre Künste vollführten: Akrobaten und Jongleure, Tänzer ganz unterschiedlicher Stilrichtungen und Musiker mit Flöten und Hörnern, Trommeln und allen Arten von Saiteninstrumenten. Jede Größe war vertreten, jede Hautfarbe und Haarfarbe und Augenfarbe, und einer war körperlich vollkommener als der andere. All das sollte diejenigen unterhalten, die sich auf dem Podest befanden. Es war idiotisch. Zeit- und Energieverschwendung. Typisch für Graendal.
Bis auf ihn war das Podest leer gewesen, als er aus dem Tor getreten war, aber so von Saidin erfüllt und mit geschärften Sinnen roch er Graendals süßes Parfüm, wie eine Brise, die von einem Blumengarten her kam, und er hörte ihre Pantoffeln über den Teppich streifen, bevor sie ihn von hinten her ansprach: »Sind meine Schätzchen nicht wunderschön?«
Sie trat neben ihn an die Brüstung und lächelte auf das Schauspiel unter ihnen herab. Ihr dünnes Domanikleid klebte beinahe an ihrer Haut und zeigte mehr, als es andeutete. Wie immer trug sie an jedem Finger einen Ring mit einem anderen Edelstein, dazu vier oder fünf über und über mit Gemmen besetzte Armreife an jedem Handgelenk, und um den Stehkragen des Abendkleides schmiegte sich ein breites Kollier aus enorm großen Saphiren. Er verstand nicht viel von solchen Dingen, aber er vermutete, es habe Stunden gedauert, um diese sonnengoldenen Locken zu frisieren, die ihr auf die Schultern fielen. Scheinbar wahllos verstreut hingen dazwischen Mondperlen, aber es war etwas an dieser scheinbaren Unordnung, das auf eine ganz präzise geplante Ordnung hindeutete.
Sammael staunte manchmal über sie. Er hatte sie erst kennengelernt, als er sich entschloß, eine verlorene Sache aufzugeben und statt dessen dem Großen Herrn zu folgen, aber jeder schien sie zu kennen, berühmt und geehrt, eine hingebungsvoll arbeitende Asketin, die jene behandelte, deren verstörten Hirnen die normale Heilkunst nicht mehr helfen konnte. Bei diesem ersten Zusammentreffen, als sie ihm die ersten Gefolgschaftseide für den Großen Herrn abnahm, war jede Spur der enthaltsamen Wohltäterin aus ihr gewichen, als habe sie sich absichtlich allem zugewandt, was im völligen Gegensatz zu ihren früheren Zielen stand. Oberflächlich betrachtet, war sie ausschließlich auf ihr eigenes Vergnügen fixiert, und ihr Wunsch, jeden vom Thron zu stoßen, der auch nur ein wenig Macht besaß, wurde dadurch verschleiert. Und dahinter wiederum verbarg sich ihr eigener Machthunger, den sie nur selten nach außen hin zeigte. Graendal hatte es schon immer sehr gut verstanden, Dinge zu verbergen, die doch ganz klar ersichtlich waren. Er glaubte, sie besser zu kennen als jeder der anderen Auserwählten —sie hatte ihn sogar zum Schayol Ghul begleitet, als er dort seinen Antrittsbesuch machte —, aber selbst er kannte nicht alle Schichten ihrer vielschichtigen Persönlichkeit. An ihr entdeckte man so viele Schattierungen, wie ein Jegal Schuppen aufwies, und sie schlüpfte blitzschnell von einer in die andere Rolle. Damals war sie die Herrin gewesen und er ihr Anhänger, trotz all seiner Verdienste als General. Diese Lage hatte sich geändert.