»Gerüchte! Lanfear hat al'Thor von Anfang an unterstützt, wenn du mich fragst. Ich hätte seinen Kopf im Stein von Tear bekommen, hätte nicht irgend jemand Myrddraal und Trollocs hingesandt, um ihn zu retten! Das war Lanfear, da bin ich sicher. Ich bin jedenfalls mit ihr fertig. Beim nächsten Mal, wenn ich sie treffe, werde ich sie töten! Und warum sollte er Asmodean umbringen? Ich würde es ja tun, könnte ich ihn finden, aber er ist zu al'Thor übergelaufen. Er unterrichtet ihn sogar!«
»Du findest auch immer eine Ausrede für dein Versagen« flüsterte sie in ihren Punsch hinein, wiederum so leise, daß er es nur mit Hilfe Saidins verstehen konnte. Mit lauterer Stimme sagte sie dann: »Suche dir deine eigenen Erklärungen heraus, wenn du willst. Vielleicht hast du sogar recht damit. Alles, was ich weiß, ist die Tatsache, daß Lews Therin uns einen nach dem anderen aus dem Spiel zieht.«
Sammaels Hände zitterten vor Zorn, und beinahe wäre ihm Wein aus dem Kelch geschwappt, hätte er sich nicht gerade noch beherrscht. Rand al'Thor war nicht Lews Therin. Er selbst hatte den großen Lews Therin Telamon überlebt, der den Ruhm für Siege einstrich, die er selbst gar nicht hätte erringen können, und der von anderen erwartete, daß sie ihm alles glaubten. Er bedauerte nur, daß der Mann kein Grab hinterlassen hatte, auf das er hätte spucken können.
Graendal klopfte mit ihren beringten Fingern den Rhythmus einer Melodie mit, die von unten her zu ihnen drang, und sagte dann geistesabwesend, als sei ihre Aufmerksamkeit eigentlich dem Lied gewidmet: »So viele von uns sind bereits gestorben, weil sie sich ihm zum Kampf stellten. Aginor und Balthamel. Ishamael, Be'lal und Rahvin. Und Lanfear und Asmodean, was du auch glauben magst. Vielleicht auch Moghedien, vielleicht verbirgt sie sich aber auch in den Schatten und wartet darauf, daß der Rest von uns fällt — sie wäre töricht genug für so etwas. Ich hoffe sehr, du hast irgendein Versteck vorbereitet, wohin du flüchten kannst. Es scheint überhaupt keinen Zweifel daran zu geben, daß er sich als nächstes dich vorknöpft. Bald, würde ich sagen. Ich werde hier kein Heer gegen mich erwarten, aber Lews Therin ist dabei, ein ziemlich starkes Heer zu sammeln und gegen dich auszusenden. Das ist der Preis, den du zahlen mußt, weil du nicht nur Macht ausübst, sondern dabei auch gesehen werden willst.«
Ganz zufällig hatte er tatsächlich Fluchtwege vorbereitet, denn das war ja nur empfehlenswert, aber in ihrer Stimme die feste Überzeugung zu erkennen, daß er sie benötigen werde, ließ in ihm doch den Zorn aufkochen. »Und wenn ich al'Thor vernichte, wird es keinem Befehl des Großen Herrn widersprechen.« Er verstand ohnehin nichts; doch es war überflüssig, den Großen Herrn zu verstehen. Man mußte ihm lediglich gehorchen. »Soweit du sie an mich weitergegeben hast. Falls du mir etwas verschweigst...«
Graendals Blick verhärtete sich zu blauem Eis. Sie mochte ja am liebsten Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen, doch Drohungen konnte sie für den Tod nicht leiden. Im nächsten Moment lächelte sie jedoch schon wieder töricht. So wetterwendisch wie der Himmel über M'jinn. »Was Demandred mir über die Befehle des Großen Herrn berichtete, habe ich an dich weitergegeben, Sammael. Jedes einzelne Wort. Ich bezweifle, daß selbst er es wagen würde, im Namen des Großen Herrn zu lügen.«
»Aber du hast mir verdammt wenig darüber berichtet, was er eigentlich zu unternehmen gedenkt«, sagte Sammael leise, »sowohl er wie Semirhage oder Mesaana. Praktisch gar nichts.«
»Ich habe dir gesagt, was ich weiß.« Sie seufzte gereizt. Vielleicht sagte sie ja die Wahrheit. Sie schien es zu bedauern, daß sie selbst nicht mehr erfahren hatte. Vielleicht. Bei ihr konnte alles aber auch nur erlogen sein. »Was den Rest betrifft... Erinnere dich, Sammael. Wir haben untereinander genauso energisch intrigiert, wie wir Lews Therin bekämpften, und doch hatten wir diesen Kampf beinahe schon gewonnen, bis er uns alle zusammen am Schayol Ghul erwischt hat.« Sie schauderte, und einen Augenblick lang wirkte ihr Gesicht ausgezehrt. Auch Sammael wollte lieber nicht an diesen Tag zurückdenken oder an das, was danach folgte: ein traumloser Schlaf, während dessen sich die Welt jenseits allen Wiedererkennens veränderte und alles verschwand, was er geschaffen hatte. »Nun sind wir in einer Welt erwacht, wo wir so hoch über den gewöhnlichen Sterblichen stehen, daß wir beinahe eine andere, überlegene Rasse sein könnten — und wir sterben einer nach dem anderen. Vergiß einmal für den Augenblick die Frage, wer Nae'blis werden wird. Al'Thor — wenn du ihn schon bei diesem Namen nennen mußt — al'Thor war so hilflos wie ein Neugeborenes, als wir erwachten.«
»Ishamael hat ihn aber nicht für so hilflos gehalten«, sagte er. Aber natürlich war Ishamael damals bereits wahnsinnig gewesen. Sie fuhr fort, als habe sie seinen Einwand nicht vernommen: »Wir verhalten uns, als sei dies die Welt, die wir kennen, obwohl in Wirklichkeit nichts mehr so ist wie damals. Wir sterben einer nach dem anderen, und al'Thor wird immer stärker. Länder und Völker sammeln sich unter seiner Führung. Und wir sterben. Die Unsterblichkeit ist mein. Ich will nicht doch noch sterben.«
»Wenn du dich vor ihm fürchtest, dann töte ihn doch.« Bevor die Worte noch ganz ausgesprochen waren, hätte er sie am liebsten zurückgerufen.
Ungläubigkeit und Verachtung verzerrten Graendals Gesicht. »Ich diene dem Großen Herrn und gehorche, Sammael.«
»So wie ich. So wie wir alle.«
»Wie großherzig von dir, es über dich zu bringen, vor unserem Herrn niederzuknien.« Ihre Stimme klang genauso eisig, wie ihr Lächeln wirkte, und sein Gesicht lief dunkel an. »Alles, was ich damit sagen will, ist: Lews Therin ist heutzutage genauso gefährlich wie damals in unserer Zeit. Ihn fürchten? Ja, ich fürchte ihn. Ich habe vor, für alle Ewigkeit weiterzuleben, anstatt Rahvins Schicksal zu teilen!«
»Tsag!« Diese obszöne Bezeichnung brachte sie endlich dazu, die Augen aufzureißen und ihn richtig anzusehen. »Al'Thor — al'Thor, Graendal! Ein ignoranter Junge, was Asdmodean ihm auch beibringen mag! Ein primitiver Kerl, der vermutlich immer noch glaubt, neun Zehntel von dem, was du und ich als selbstverständlich betrachten, sei in Wirklichkeit unmöglich! Al'Thor bringt ein paar Lords dazu, daß sie vor ihm das Knie beugen, und er glaubt, er habe ein ganzes Land erobert. Er hat gar nicht die Willensstärke, die Faust zu schließen und sie wirklich zu unterwerfen. Nur die Aiel — Bajad drovja! Wer hätte gedacht, daß sie sich so ändern würden?« Er mußte sich beherrschen; sonst fluchte er nie auf diese Weise; das war eine Schwäche. »Nur sie gehorchen ihm wirklich, und nicht einmal alle von ihnen. Er hängt an einem seidenen Faden, und er wird stürzen, entweder so oder so.«
»Tatsächlich? Und was ist, wenn er...?« Sie hielt inne und hob ihren Kelch so schnell an den Mund, daß Wein auf ihren Unterarm spritzte. Dann kippte sie das Getränk so hastig hinunter, bis der Kelch fast leer war. Die elegante Dienerin kam mit ihrer Kristallkanne herbeigeeilt. Graendal hielt ihr den Kelch zum Nachfüllen hin und fuhr in hastigem Tonfall fort: »Wie viele von uns werden sterben, bevor alles vorüber ist?
Wir müssen zusammenhalten wie noch niemals zuvor!«
Das war nicht, was sie ursprünglich sagen wollte. Er beachtete das Eis nicht, das erneut nach seinem Rückgrat griff. Al'Thor würde nicht zum Nae'blis erwählt werden. Ganz gewiß nicht! Also wollte sie, daß sie alle zusammenhielten, oder? »Dann verknüpfe dich mit mir. Wir beide miteinander verknüpft wären al'Thor mehr als nur gleichwertig. Nimm das als Beginn unserer neuen Gemeinschaft.« Seine Narbe spannte sich, als er die plötzliche Ausdruckslosigkeit ihrer Miene belächelte. Die Verknüpfung mußte von ihr her ausgelöst werden, aber da sie nur zu zweit waren, würde sie ihm die Kontrolle anvertrauen müssen und auch die Entscheidung darüber, wann das Band wieder aufgelöst wurde. »Na also. Wie es scheint, machen wir genauso weiter wie vorher.« Da hatte es auch zuvor kaum einen Zweifel gegeben, denn Vertrauen gehörte einfach nicht zu ihrem Persönlichkeitsmuster. »Was hast du mir noch zu berichten?« Aus diesem Grund befand er sich ja letzten Endes hier, und nicht, um ihrem Geschwätz über Rand al'Thor zu lauschen. Mit al'Thor würde man schon fertig. Auf direktem oder auf indirektem Wege.