Semirhage ließ die eisenbeschlagene Tür hinter sich zufallen. Eine der Glühbirnen, der Große Herr allein mochte wissen, aus welchen Überresten sie stammte, flackerte ständig, warf aber immer noch ein helleres Licht als die Kerzen und Öllampen, mit denen sie sich in diesem Zeitalter abfinden mußte. Vom Lichtschein abgesehen, machte dieser Ort den beklemmenden Eindruck eines Gefängnisses, mit seinen raunen Steinwänden und dem blanken Fußboden. Nur ein kleiner, grob gezimmerter Holztisch stand in der einen Ecke. Das war nicht ihr Einfall gewesen. Ware es nach ihr gegangen, dann wäre hier alles fleckenlos weiß gewesen und hätte vor Cueran nur so geschimmert, glattgeleckt und steril. Dieser Ort war vorbereitet worden, bevor sie von der Notwendigkeit dazu erfahren hatte. Eine in Seide gekleidete Frau mit blassem Haar hing mitten im Raum an gespreizten Armen und Beinen offensichtlich im Leeren und blickte sie trotzig an. Eine Aes Sedai. Semirhage haßte die Aes Sedai.
»Wer seid Ihr?« wollte die ›Patientin‹ wissen. »Gehört Ihr zu den Schattenfreunden? Oder seid Ihr eine Schwarze Schwester?«
Semirhage beachtete den Lärm gar nicht, sondern überprüfte nur kurz den Puffer, der zwischen der Frau und Saidar lag. Sollte er versagen, konnte sie dieses erbärmliche Bündel wohl problemlos abschirmen — es war schon ein deutliches Anzeichen für die Schwäche einer Frau, wenn sie sich leisten konnte, den verknoteten Puffer unbeobachtet zurückzulassen —, aber die Vorsicht war ihr zur zweiten Natur geworden, und so tat sie stets nur einen Schritt nach dem anderen. Nun zur Kleidung dieser Frau. Angezogen fühlte man sich für gewöhnlich sicherer als ohne jede Bekleidung. Sie verwob ganz feine Stränge aus Feuer und Wind und schnitt damit das Kleid und das Unterhemd und jeden Fetzen Kleidung bis hinunter zu den Schuhen der Patientin vorsichtig ab. Sie ließ alles in Sichthöhe der Frau zusammenrutschen, bis ein festes Bündel daraus geworden war, und dann gebrauchte sie die Macht erneut, Feuer und Erde diesmal, mit dem Resultat, daß feiner Staub auf den Steinboden herabrieselte.
Die blauen Augen der Frau quollen beinahe heraus. Semirhage bezweifelte, daß sie diese einfachen Dinge hätte nachmachen können, selbst wenn sie fähig gewesen wäre, das Gewebe zu durchschauen.
»Wer seid Ihr?« Diesmal klang die Aufforderung bereits reichlich nervös. Vielleicht lag es an ihrer Furcht. Es war immer gut, wenn die sich bereits in diesem frühen Stadium bemerkbar machte.
Semirhage machte ganz genau die Zentren im Hirn der Frau aus, die Botschaften des Schmerzes aus ihrem Körper empfangen würden, und dann fing sie methodisch damit an, diese Schmerzzentren mit Hilfe von Geist und Feuer zu reizen. Anfangs nur ein klein wenig, dann steigerte sie den Reiz. Zuviel auf einmal konnte einen Patienten innerhalb weniger Augenblicke töten, aber es war schon bemerkenswert, wie weit man die Schmerzempfindung steigern konnte, wenn man in ganz winzigen Schritten vorwärtsging. An etwas zu arbeiten, was sie nicht sehen konnte, war eine schwierige Aufgabe, selbst aus dieser Nähe, doch sie verstand soviel von den Reaktionen eines menschlichen Körpers wie wohl kaum jemand vor ihr.
Die mit abgespreizten Gliedmaßen dahängende Patientin bewegte den Kopf, als wolle sie den beginnenden Schmerz abschütteln, doch dann wurde ihr bewußt, daß es nicht möglich war, und sie starrte Semirhage mit großen Augen an. Semirhage dagegen beobachtete nur und behielt ihr Gewebe bei. Selbst bei der hier gebotenen Eile konnte sie sich doch ein wenig Geduld leisten.
Wie sie all jene haßte, die sich als Aes Sedai bezeichneten! Sie war selbst eine gewesen, eine echte Aes Sedai und nicht so eine ignorante Närrin wie dieser Einfaltspinsel, der da vor ihr hing. Sie war bekannt gewesen, sogar berühmt, war in jede Ecke der Welt gerufen worden, weil sie die Fähigkeit besaß, jede Verletzung zu heilen, selbst Menschen vom Rande des Todes zurückzuholen, wo jede andere behauptete, es gebe keine Rettung mehr. Und eine Delegation vom Saal der Dienerinnen hatte ihr etwas angeboten, was man nicht mehr als freie Wahl bezeichnen konnte: sich entweder binden zu lassen und damit auf ihre ganze Freude zu verzichten, und durch diese Bindung wahrnehmen zu können, wenn sich das Ende ihres Lebens näherte, oder von der Macht abgeschnitten und von den Aes Sedai ausgestoßen zu werden. Sie hatten von ihr erwartet, daß sie die Bindung akzeptierte, denn das war nur logisch und folgerichtig gedacht, und es waren ja alles vernünftige, gesetzte Männer und Frauen. Sie hätten nie gedacht, daß sie fliehen werde. Sie war eine der ersten gewesen, die zum Schayol Ghul kamen.
Dicke Schweißtropfen rollten über das blasse Gesicht der Patientin. Ihr Kinn verkrampfte sich, und ihre Nasenflügel bebten, als sie die Luft heftig einsaugte. Von Zeit zu Zeit stöhnte sie leicht auf. Geduld. Bald war es soweit.
Es war aus Eifersucht geschehen, der Eifersucht jener, die nicht vollbringen konnten, was sie schaffte. Hatte sich jemals einer von denen beklagt, die sie dem Tod wieder aus dem Griff gerissen hatte, daß er lieber gestorben wäre, als ihr die kleine Zugabe zu verwehren, die sie ihm dafür abgenommen hatte? Und die anderen? Es gab immer welche, die es verdient hatten, leiden zu müssen.
Was machte es schon aus, wenn es ihr Freude bereitet hatte, ihnen das zu geben, was sie verdienten? Der Saal und das scheinheilige Gewinsel über Legalität und Persönlichkeitsrechte. Sie hatte das Recht darauf verdient, zu tun, was sie eben getan hatte; sie hatte es sich wirklich und wahrhaftig verdient. Sie war viel wertvoller für die ganze Welt gewesen als all jene zusammengenommen, die sie mit ihren Schmerzensschreien unterhalten hatten. Und von Eifersucht und Neid getrieben, hatte der Saal versucht, statt dessen
sie zu verstoßen!
Nun, während des Krieges waren ihr einige von denen in die Hände gefallen. Wenn sie genügend Zeit hatte, konnte sie auch den stärksten Mann zerbrechen, die stolzeste Frau, und sie genau zu dem umformen, was sie in ihnen sah. Dieser Prozeß war vielleicht langsamer, als sie durch inneren Zwang umzuerziehen, aber er bereitete ihr unendlich mehr Genuß, und sie glaubte nicht, daß selbst Graendal wiederherstellen konnte, was sie zerstört hatte. Die Stränge, mit denen man den inneren Zwang erzeugte, konnte man auflösen. Aber ihre Patienten... Auf den Knien hatten sie sie angebettelt, ihre Seelen dem Schatten zu geben, und sie hatte ihrem Wunsch folgsam entsprochen, bis sie gestorben waren. Jedesmal war Demandred des Lobes voll gewesen, weil wieder ein anderer Ratgeber des Saales sich öffentlich zum Großen Herrn bekannt hatte, aber für sie war das Schönste immer der Moment gewesen, in dem ihre Gesichter erbleichten, sogar noch Jahre später, wenn sie ihrer gewahr wurden, und wenn sie sich beinahe überschlugen, um ihr zu versichern, daß sie treu zu dem standen, was sie aus ihnen gemacht hatte.
Das erste Schluchzen entrang sich der hilflos in der Luft hängenden Frau und wurde sofort unterdrückt. Semirhage wartete tatenlos. Es mochte wohl in dieser Situation Eile angebracht sein, doch zuviel Eile würde ihr alles verderben. Die Patientin schluchzte nun wieder und wieder. Ihre Bemühungen, das zu unterdrücken, hatten keinen Erfolg mehr. Es wurde lauter, lauter, und schwoll schließlich zu einem Heulen an. Semirhage wartete ab. Die Frau glänzte vor Schweiß. Sie warf den Kopf von einer Seite auf die andere. Ihr Haar flog. Sie zuckte hilflos und verkrampft in ihren unsichtbaren Fesseln. Ohrenbetäubende Schreie aus vollem Hals hielten an, bis sie um Luft ringen mußte, und sie begannen erneut, sobald ihre Lunge wieder gefüllt war. Diese weit auf gerissenen, hervorquellenden blauen Augen sahen nichts. Sie wirkten bereits glasig. Nun fing es an.