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Semirhage musterte ihn eine Weile. Es war etwas an ihm... Eine Anspannung, die sich in seiner Mundpartie und an seinen Augen zeigte. Als habe er bereits mit dem Schmerz zu kämpfen. Aber natürlich! Dieses seltsame Band zwischen der Aes Sedai und ihrem Behüter. Schon eigenartig, daß diese Primitivlinge etwas gefunden hatten, was keiner der Auserwählten verstand, aber es war tatsächlich so. Dem wenigen nach zu urteilen, was sie darüber wußte, empfand dieser Kerl womöglich zumindest einen Teil dessen mit, was die andere Patientin gerade erlebte. Zu jeder anderen Zeit hätte ihr das hochinteressante Möglichkeiten eröffnet. Jetzt bedeutete es lediglich, daß er wohl glaubte, er wisse, was auf ihn zukam.

»Eure Besitzerin paßt nicht gut auf Euch auf«, sagte sie. »Wäre sie mehr als eine primitive Wilde, wäre es nicht notwendig, Euch von all jenen Narben verunzieren zu lassen.« Sein Gesichtsausdruck änderte sich nur unwesentlich. Sie entdeckte einen Hauch von Verachtung darin. »Also dann.«

Diesmal legte sie ihr Gewebe über die Lustzentren und begann damit, den Reiz langsam zu intensivieren. Er war intelligent. Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf, und dann zogen sich seine Augen zusammen und richteten sich wie Splitter aus dunklem Eis auf sie. Ihm war klar, daß er dieses immer stärker werdende Glücksgefühl nicht empfinden dürfte, und obwohl er ihr Gewebe nicht wahrnehmen konnte, wußte er doch, daß es ihr Werk war. Deshalb machte er sich daran, dagegen anzukämpfen. Semirhage hätte beinahe gelächelt. Zweifellos glaubte er, viel leichter gegen Wohlbefinden ankämpfen zu können als gegen Schmerzen. Gelegentlich einmal hatte sie den Willen von Patienten ausschließlich dadurch gebrochen. Es machte ihr aber nur wenig Spaß, und hinterher konnten sie überhaupt nicht mehr zusammenhängend denken. Sie wollten dann nur immer noch mehr dieser Ekstase empfinden, die in ihren Köpfen erblühte, aber es ging schnell und sie taten dann uneingeschränkt alles, um mehr zu bekommen. Es lag an dem Mangel an zusammenhängenden Denkvorgängen, weshalb sie diese Methode bei der anderen Patientin nicht angewandt hatte, denn von ihr benötigte sie klare Antworten. Dieser Bursche hier würde den Unterschied früh genug erkennen.

Ein Unterschied. Sie legte nachdenklich einen Finger auf ihre Lippen. Warum unterschied sich Shaidar Haran von allen anderen Myrddraal? Ihr paßte der Gedanke an eine solche Abnormität gar nicht, ausgerechnet jetzt, wo alles zu ihren Gunsten zu verlaufen schien, aber ein Myrddraal, der sogar über die Auserwählten gestellt wurde, wenn auch vielleicht nur gelegentlich, war mehr als nur einfach ungewöhnlich. Al'Thor war geblendet; seine ganze Aufmerksamkeit galt Sammael, und Graendal ließ bei Sammael gerade genug durchblicken, daß er in seinem Stolz nicht alles wieder zu Fall brachte. Natürlich hatten auch Graendal und Sammael ihre geheimen Plänchen, um Vorteile zu erlangen, einzeln oder gemeinsam. Sammael war wie ein erhitztes Sofar mit verbogenen Steuerrudern, und auch Graendals Reaktionen waren nicht viel einfacher vorauszusehen. Sie hatten noch nie begreifen können, daß alle Macht ausschließlich vom Großen Herrn kam, daß er sie verteilte, wie es ihm beliebte und aus seinen eigenen Gründen. Ganz nach Laune — das konnte sie ja wenigstens in der Sicherheit ihres eigenen Verstandes noch denken.

Es war beunruhigender, daß einige der Verlorenen verschwunden waren. Demandred bestand darauf, sie seien tot, aber sie selbst und Mesaana waren da nicht so sicher. Lanfear. Wenn es noch etwas wie Gerechtigkeit gab, würde die Zeit ihr schließlich Lanfear in die Hände spielen. Die Frau tauchte immer dann auf, wenn man es am wenigsten erwartete, benahm sich immer, als hätte sie ein Recht dazu, sich in die Pläne anderer einzumischen, und brachte sich schnell immer wieder in Sicherheit, wenn ihr dilettantisches Eingreifen alles zu Fall gebracht hatte. Moghedien. Sie drückte sich immer wieder außer Sichtweite herum, doch sie war noch niemals zuvor so lange weggeblieben, ohne sich zu rühren, um wenigstens dem Rest von ihnen ins Gedächtnis zu rufen, daß auch sie letzten Endes zu den Auserwählten zählte. Asmodean. Ein Verräter und deshalb auch zum Untergang verurteilt, aber er war tatsächlich verschwunden, und die Existenz Shaidar Harans und ihre eigenen Aufträge hier zusammengenommen, erinnerte sie nur zu deutlich daran, daß der Große Herr auf seine eigene Weise auf die Erfüllung seiner Ziele hinarbeitete.

Die Auserwählten waren für ihn nicht mehr als Figuren auf einem Spielbrett. Sie mochten vielleicht als Ratgeber und Unterführer dienen, aber trotzdem waren sie nur Spielfiguren. Wenn der Große Herr sie insgeheim hierhergebracht hatte, konnte er dann nicht auch Moghedien oder Lanfear oder sogar Asmodean mit Geheimaufträgen weggesandt haben? Würde er nicht vielleicht Shaidar Haran mit Geheimbefehlen zu Graendal oder Sammael schicken? Oder, wenn sie diesen Gedanken schon verfolgte, vielleicht auch zu Demandred oder Mesaana? Ihr unsicheres Bündnis, falls man es wirklich als solches bezeichnen konnte, hatte eine lange Zeitspanne überdauert, aber keiner der anderen würde ihr etwas davon erzählen, sollte er oder sie geheime Aufträge vom Großen Herrn empfangen haben, und genauso würde sie ihnen einen Hinweis darauf geben, warum sie hierhergebracht worden war, oder warum sie damals Myrddraal und Trollocs in den Stein von Tear geschickt hatte, um die von Sammael gesandten Truppen zu bekämpfen.

Falls der Große Herr vorhatte, al'Thor zum Nae'blis zu ernennen, würde sie auch vor ihm das Knie beugen — und auf einen Fehler warten, um ihn in die Hände zu bekommen. Unsterblichkeit bedeutete auch, daß man unendlich viel Zeit zum Abwarten hatte. Es gab immer genügend andere Patienten, mit denen sie sich in der Zwischenzeit vergnügen konnte. Was ihr Kopfzerbrechen machte, war Shaidar Haran. Sie war immer nur eine mittelmäßige Tscheranspielerin gewesen, doch Shaidar Haran war eine neue Figur auf dem Spielbrett, eine, deren Stärke und Zweck sie nicht kannte. Und eine kühne Methode, den Hochrat des Gegners in die Hände zu bekommen und zum Überlaufen auf die eigene Seite zu bringen, war die, die eigenen Türme, die Unterführer also, in einem Scheinangriff zu opfern. Sie würde das Knie beugen, falls es notwendig war und solange es notwendig war, aber opfern lassen würde sie sich nicht.

Ein eigenartiges Gefühl in ihrem Gewebe brachte ihre Gedanken zur augenblicklichen Lage zurück. Sie warf einen Blick auf den Patienten und schnalzte enttäuscht mit der Zunge. Sein Kopf hing zur Seite, das Kinn war vom Blut dunkel verfärbt, weil er seine eigene Zunge zerbissen hatte, und die Augen waren glasig und blickten starr. Unaufmerksamkeit. Sie hatte die Intensität des Reizes zu schnell und zu weit gesteigert. Ihre Gereiztheit zeigte sich nicht auf ihrer Miene, als sie das Gewebe auflöste. Es hatte ja wohl keinen Zweck, das Gehirn einer Leiche zu stimulieren.

Ihr kam ein plötzlicher Gedanke. Wenn der Behüter das mitempfand, was die Aes Sedai fühlte, würde das dann auch umgekehrt stattfinden? Sie betrachtete noch einmal die Narben, die den Körper des Mannes bedeckten, und hielt das für unmöglich. Selbst diese Einfaltspinsel hätten doch wohl die Bindung aneinander geändert, falls man durch sie sogar dies miteinander teilte. Trotzdem ließ sie den Kadaver hängen und schritt eilends durch den Korridor.

Die Schreie, die sie hörte, noch bevor sie die eisenbeschlagene Tür ins Dunkle öffnete, ließen sie tief und erleichtert aufatmen. Hätte sie die Frau umgebracht, ohne ihr zuvor jedes bißchen Wissen zu entringen, dann hätte sie womöglich so lange hierbleiben müssen, bis eine andere Aes Sedai gefangen wurde. Mindestens solange.

Aus den kehlenzerfetzenden Schreien konnte sie kaum verständliche Worte heraushören, Worte, in die diese Patientin die ganze Kraft ihrer Seele hineingelegt zu haben schien. »Biiiiiteeeee! Oh, Licht, biiiittteeeeee!«