Nynaeve stand ungeduldig in dem weißen Kleid einer Aufgenommenen mit den Farbstreifen am Saum neben Siuan und Leane. Sie trug immer noch das silbrige Armband, obwohl es nicht von hier aus in der wachenden Welt wirken konnte. Es band Moghedien nach wie vor, aber Nynaeve, die sich ja nicht in ihrem Körper befand, konnte keine Empfindungen daraus wahrnehmen. Leanes Figur war von erlesener Schlankheit, wenn auch Elaynes Meinung nach ihr kaum noch durchscheinend zu nennendes langes Domanikleid aus dünner Seide von ihrer Eleganz ablenkte. Auch die Farbe veränderte sich ständig. Das passierte immer, bis man lernte, seine Umwelt hier zu kontrollieren. Siuan beherrschte das bereits etwas besser. Sie trug ein schlichtes Kleid aus blauer Seide, so leicht ausgeschnitten, daß man gerade noch den verdrehten Ring an ihrem Halsband hängen sah. Andererseits erschien an dem Kleid von Zeit zu Zeit ein Spitzenbesatz, und das Halsband wandelte sich von einer einfachen Silberkette zu kunstvollen Kolliers, mit Rubinen oder Feuerfunken oder Smaragden in Gold gefaßt, und gleich mit den dazu passenden Ohrringen. Dann erschien wieder die einfache Kette.
Es war der ursprüngliche Ring, der nun an Siuans Hals hing. Sie schien genauso körperlich zu sein, wie die Gebäude. Wenn sie an sich herunterblickte, machte Elaynes Körper auf sie selbst den gleichen soliden Eindruck, aber sie wußte, daß sie den anderen ein wenig verschwommen vorkommen mußte, genau wie Nynaeve und Leane ihr. Man konnte fast meinen, durch die anderen hindurch den Mondschein erkennen zu können. Das war der Effekt, wenn man nur eine Kopie des Ringes benutzte. Sie nahm auch die Wahre Quelle wahr, aber in ihrem Zustand fühlte sich Saidar ganz flüchtig an. Wenn sie einen Versuch unternahm, die Macht zu gebrauchen, würde das zu mageren Resultaten führen. Bei dem Ring, den Siuan trug, wäre das anders, aber sie mußte nun den Preis dafür bezahlen, daß jemand anders von ihren Geheimnissen wußte und sie sich die Aufdeckung nicht leisten konnte. Siuan vertraute eben mehr auf das Original als auf Elaynes Kopien, also trug sie es — nur manchmal gab sie den Originalring an Leane weiter —, während sich Elayne und Nynaeve, die Saidar benützen konnten, mit den anderen begnügen mußten.
»Wo stecken sie?« wollte Siuan wissen. Ihr Ausschnitt wanderte hoch und wieder herunter. Jetzt war ihr Kleid grün und das Halsband eine Kette von dicken Mondperlen. »Es ist schon schlimm genug, daß sie mir ein Paddel zwischen die Riemen stecken und damit herumfuchteln, wie es ihnen paßt; aber jetzt lassen sie mich auch noch warten!«
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst, daß sie mitkommen wollen«, sagte Leane zu ihr. »Es gefällt dir doch, wenn sie vor deiner Nase Fehler begehen. Sie wissen nicht halb soviel, wie sie zu wissen glauben.« Einen Augenblick lang war ihr Kleid beinahe vollkommen durchsichtig. Ein geschlossener Halsring aus dicken Perlen lag um ihren Hals und verschwand wieder. Sie bemerkte es gar nicht. Sie hatte in dieser Welt noch weniger Erfahrung als Siuan.
»Ich brauche mal wieder richtigen Schlaf«, knurrte Siuan. »Bryne scheucht mich herum, bis mir die Luft ausgeht. Und ich muß die halbe Nacht auf Frauen warten, die sich kaum daran erinnern, wie man läuft. Ganz zu schwiegen davon, auch noch diese beiden Klötze am Bein zu haben.« Sie warf Elayne und Nynaeve einen finsteren Blick zu und rollte dann die Augen schicksalsergeben nach oben.
Nynaeve packte mit einer Hand ihren Zopf; ein sicheres Anzeichen dafür, daß in ihr der Zorn emporkochte. Ausnahmsweise einmal konnte Elayne ihr das von ganzem Herzen nachfühlen. Es war schon mehr als nur schwierig, für Schüler die Lehrerin zu spielen, die glaubten, mehr zu wissen, als sie tatsächlich wußten, und die eher die Lehrerin tadelten als umgekehrt, weil sie sich auch noch eines besonderen Schutzes erfreuten. Sicher, die anderen waren noch weit schlimmer als Siuan oder Leane. Wo steckten denn nun die anderen?
Weiter oben an der Straße bewegte sich etwas. Sechs Frauen, vom Glühen Saidars umgeben, die nicht gleich wieder verschwanden. Wie üblich hatten sich Sheriam und die anderen ihrer kleinen Ratsversammlung in ihre eigenen Schlafgemächer hineingeträumt und waren dann herausspaziert. Elayne war sich nicht im klaren darüber, inwieweit sie die Eigenschaften Tel'aran'rhiods bereits durchschauten. Auf jeden Fall bestanden sie häufig darauf, alles auf ihre eigene Art zu tun, und wenn es auch eine bessere Methode gab. Wer konnte das schon besser wissen als eine Aes Sedai?
Die sechs Aes Sedai waren aber wirklich Anfängerinnen in Tel'aran'rhiod, und ihre Kleidung veränderte sich jedesmal, wenn Elayne nur hinblickte. Zuerst hatte eine von ihnen die bestickte Stola der Aes Sedai um die Schultern geschlungen, mit den Fransen in der jeweiligen Farbe ihrer Ajah und mit der weißen Flamme von Tar Valon wie eine herausleuchtende Träne auf dem Rücken, dann trugen plötzlich vier die Stola und dann keine einzige mehr. Manchmal hatten sie leichte Reiseumhänge auf dem Rücken, um den Staub hinter sich von ihnen abzuhalten, bei denen links auf der Brust und auf dem Rücken die Flamme aufgestickt war. Ihre alterslosen Gesichter zeigten natürlich keine Spur der Hitze, denn das war bei den Aes Sedai nie der Fall, aber auch kein Anzeichen dafür, daß ihnen dieser ständige Kleiderwechsel überhaupt bewußt war.
Sie sahen genauso verschwommen aus wie Nynaeve oder Leane. Sheriam und die anderen setzten mehr Vertrauen in Traum-Ter'Angreal, für die man die Macht benutzen mußte, als in die Ringe. Sie waren wohl einfach nicht gewillt, einzusehen, daß Tel'aran'rhiod nichts mit der Einen Macht zu tun hatte. Zumindest konnte Elayne nicht feststellen, ob eine von ihnen ihre Kopien benutzte. Drei von ihnen würden irgendwo am Körper jeweils eine kleine Scheibe aus einem Material, das einst Eisen gewesen war, bei sich tragen, in die man auf beiden Seiten eine enge Spirale eingraviert hatte und die man durch einen Strang aus Geist aktivierte, der einzigen der Fünf Mächte, die man im Schlaf lenken konnte. Überall, aber allerdings nicht hier. Die anderen drei hatten kleine Fibeln dabei, die einst aus Bernstein gefertigt worden waren. In jede hatte ihr Schöpfer eine schlafende Frau eingearbeitet. Und hätte Elayne auch alle sechs Ter'Angreal vor sich liegen, sie wäre trotzdem nicht in der Lage, die beiden Originale wiederzuerkennen. Diese Kopien waren ihr sehr gut gelungen. Aber natürlich waren es immer noch Nachahmungen.
Als die Aes Sedai die Lehmstraße nebeneinander herunterschritten, hörte sie noch das Ende ihrer Unterhaltung, wenn sie auch nicht viel damit anfangen konnte, »...werden unsere Wahl mißachten, Carlinya«, sagte Sheriam mit dem Flammenhaar gerade, »aber sie werden ohnehin jede Wahl mißachten, die wir treffen. Wir brauchen deshalb unseren Beschluß nicht über den Haufen zu werfen. Es ist überflüssig, Euch noch einmal die Gründe aufzuzählen.«
Morvrin, eine kräftige Braune Schwester mit graugesprenkeltem Haar, schnaubte. »Nachdem wir uns mit dem Saal solche Mühe gegeben haben, hätten wir Schwierigkeiten, wollten wir sie noch einmal umstimmen.«
»Solange jeder Herrscher uns ernst nimmt, kann uns das egal sein«, sagte Myrelle hitzig. Die jüngste der sechs, noch gar nicht so lange zur Aes Sedai erhoben, klang entschieden gereizt.
»Welcher Herrscher würde es denn wagen, uns nicht ernst zu nehmen?« fragte Anaiya wie eine Frau, die fragt, welches Kind es wohl wagen mochte, Schmutz auf ihre Teppiche zu schleppen. »In jedem Fall weiß sowieso kein König oder Königin genug darüber, was unter uns Aes Sedai vorgeht, um die Lage zu durchschauen. Uns brauchen nur die Meinungen der Schwestern zu interessieren, aber nicht ihre.«