Etwas Kaltes rieselte Elaynes Rücken herunter, und es hatte nichts damit zu tun, daß Elaida nun wütend war oder Angst hatte. Zweihundertundvierundneunzig Aes Sedai befanden sich in der Burg und standen auf Elaidas Seite. Das war fast ein Drittel aller Aes Sedai, beinahe genauso viele, wie sich in Salidar versammelt hatten. Wahrscheinlich war das Beste, was sie in bezug auf die übrigbleibenden erwarten durften, etwa eine Teilung im gleichen Verhältnis. Nach einem großen Ansturm zu Beginn hatte die Anzahl der Neuankömmlinge in Salidar stark abgenommen. Aus dem Strom war ein dünnes Rinnsal geworden. Vielleicht spielte sich in der Burg genau dasselbe ab. Man konnte ja hoffen...
Eine Zeitlang suchten sie schweigend weiter, und dann rief Beonin: »Elaida, sie hat eine Delegation zu Rand al'Thor gesandt!« Elayne sprang auf und wurde gerade noch durch eine hastige Geste Siuans vom Sprechen abgehalten. Die Geste verlor allerdings etwas von ihrer Wirkung, weil Siuan vergessen hatte, zuerst ihr Fadenspiel verschwinden zu lassen.
Sheriam griff nach dem einzelnen Blatt, aber bevor ihre Hand es berührte, wurden drei daraus. »Wo schickt sie die Abordnung hin?« fragte sie zur gleichen Zeit, als Myrelle rief: »Wann haben sie Tar Valon verlassen?« Die Würde bewahrten sie alle nur noch mühsam.
»Nach Cairhien«, sagte Beonin. »Und ich habe nicht gesehen, wann sie loszogen, falls es überhaupt erwähnt wurde. Aber sie werden sich bestimmt nach Caemlyn begeben, sobald sie wissen, wo er sich aufhält.«
Trotzdem war das natürlich gut, denn sie würden etwa einen Monat oder mehr benötigen, um von Cairhien nach Caemlyn zu ziehen. Die Delegation aus Salidar würde sicher früher bei ihm ankommen. Elayne besaß eine zerfledderte Landkarte, die sie in Salidar unter ihre Matratze gesteckt hatte, und darauf hatte sie jeden Tag markiert, wie weit sie ihrer Meinung nach in Richtung Caemlyn vorwärtsgekommen sein konnten.
Die Graue hatte aber noch nicht ausgesprochen. »Wie es scheint, will Elaida ihm ihre Unterstützung anbieten. Und eine Eskorte zur Weißen Burg.« Sheriam zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist doch unsinnig!« Myrelles dunkle Wangen liefen rot an. »Elaida gehörte zu den Roten.« Eine Amyrlin gehörte zu allen Ajahs und zu keiner einzelnen mehr, aber natürlich konnte keine so einfach vergessen, woher sie kam.
»Diese Frau würde alles tun«, sagte Sheriam. »Vielleicht findet er die Unterstützung der Weißen Burg verlockend?«
»Können wir Egwene eine Botschaft über die Aielfrauen übermitteln?« schlug Myrelle mit Zweifeln in der Stimme vor.
Siuan hüstelte laut und künstlich, aber nun hatte Elayne wirklich die Nase voll. Egwene vorzuwarnen war natürlich beinahe lebenswichtig, denn Elaidas Leute würden sie garantiert zurück zur Burg schleifen, sollten sie Egwene in Cairhien antreffen, und der Empfang würde alles andere als herzlich ausfallen, aber der Rest...! »Wie könnt Ihr glauben, Rand würde auf irgend etwas hören, was Elaida sagt! Glaubt Ihr etwa, er weiß nicht, daß sie eine Rote Ajah war und was das zu bedeuten hat? Sie werden ihm keineswegs ihre Unterstützung anbieten, und das wißt Ihr genau! Wir müssen ihn warnen!« Darin lag ein gewisser Widerspruch, wie ihr sehr wohl klar war, aber ihre Zunge war ganz in der Gewalt der Sorge. Wenn Rand etwas zustieß, würde sie sterben.
»Und was schlagt Ihr vor, daß wir unternehmen sollen, Aufgenommene?« fragte Sheriam kühl.
Elayne fürchtete, sie wirke wie ein Fisch, weil sie mit offenem Mund dastand. Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Doch sie wurde mit einemmal durch einen Schrei aus einiger Entfernung gerettet, auf den wortloses Kreischen aus dem Vorzimmer folgten. Sie stand der Tür am nächsten, doch als sie hinausrannte, hatte sie die anderen bereits auf den Fersen.
Das Zimmer war bis auf den Schreibtisch der Behüterin leer, auf dem sauber angeordnete Stapel von Papieren und Halter voll mit Schriftrollen und anderen Dokumenten lagen, und dazu stand noch eine Stuhlreihe an der einen Wand, wo sich die Aes Sedai hinsetzen konnten, während sie auf ein Gespräch mit Elaida warteten. Anaiya, Morvrin und Carlinya waren weg, aber einer der hohen Türflügel auf den Flur hinaus schloß sich gerade. Die verzweifelten Schreie einer Frau drangen durch den schmalen Spalt und wurden abgeschnitten, als die Türe zu war. Sheriam, Myrelle und Beonin rannten Elayne fast über den Haufen, so eilig hatten sie es, auf den Flur hinauszukommen. Sie erschienen wohl leicht verschwommen, beim Aufprall fühlten sie sich aber solide genug an.
»Seid vorsichtig!« schrie Elayne, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Rock zu lupfen und ihnen zusammen mit Siuan hinterherzurennen, so schnell es nur ging. Sie betraten eine Szene wie aus einem Alptraum. Buchstäblich.
Etwa dreißig Schritt zu ihrer Rechten erweiterte sich der mit Wandteppichen ausgestattete Korridor zu einer Steinhöhle, die sich bis in die Ewigkeit zu erstrecken schien. Beleuchtet wurde sie in Abständen vom trüben, roten Glühen von vereinzelten Feuern und Fackeln in Wandhaltern. Überall befanden sich Trollocs, große, menschenähnliche Gestalten, deren fast zu menschliche Gesichter von tierischen Schnauzen und Fängen und Schnäbeln verunziert wurden, und auf deren Köpfen Hörner oder fedrige Kämme zu sehen waren. Diejenigen in größerer Entfernung erschienen undeutlicher als die nächsten, nur halb ausgebildete Gestalten, während die nächsten Riesen waren, zweimal so groß wie ein normaler Mann und damit sogar noch größer als die wirklichen Trollocs, alle in Leder und schwarze Dornenpanzer gehüllt, und so heulten und kreischten sie beim Tanz um Lagerfeuer und Suppenkessel, die an Gestellen und seltsam verzerrten Rahmen und Metallgerüsten hingen.
Es war wirklich ein Alptraum, wenn auch weitaus größer, als Elayne es bisher von Egwene oder den Weisen Frauen vernommen hatte. Einmal von dem schlafenden Verstand befreit, der ihn erschaffen hatte, trieben solche Dinge manchmal ziellos durch die Welt der Träume, und gelegentlich blieben sie an einem bestimmten Fleck haften. Die Traumgängerinnen der Aiel zerstörten jeden ganz selbstverständlich, wenn sie auf einen stießen, aber sie und Egwene hatten ihr geraten, das beste sei, jeden ganz zu meiden, den sie irgendwo antraf. Unglücklicherweise hatte Carlinya offensichtlich nicht hingehört, als sie und Nynaeve ihnen das erklärten.
Die Weiße Schwester hing an Händen und Füßen gebunden mit dem Kopf nach unten an einer Kette, die in der Dunkelheit über ihnen verschwand. Elayne sah das Glühen Saidars um sie herum, und doch wand sich Carlinya verzweifelt und schrie, als sie langsam mit dem Kopf voran in einen großen, schwarzen Kessel voll blasenschlagenden, kochenden Öls gesenkt wurde. In dem Augenblick, als Elayne in den Korridor hinausrannte, standen Anaiya und Morvrin genau an der Grenze, wo aus dem Flur plötzlich eine Höhle wurde. Nur einen Herzschlag lang standen sie dort, und dann plötzlich schienen sich ihre verschwommenen Gestalten auf die Grenze zu in die Länge zu ziehen wie Rauch, der in einen Schornstein hineingesaugt wird. Kaum hatten sie die Grenze berührt, befanden sie sich auch schon drinnen. Morvrin schrie, als zwei Trollocs an großen Eisenrädern drehten, die sie immer weiter streckten. Immer dünner schien sie so zu werden. Anaiya dagegen hing gefesselt an ihren Handgelenken, und um sie herum tanzten Trollocs und schlugen mit Peitschen, deren Schnüre mit Metallspitzen versehen waren, auf sie ein. Die Peitschen rissen lange Streifen aus ihrem Kleid.
»Wir müssen uns verknüpfen«, sagte Sheriam, und das Glühen, das sie umgab, verschmolz mit dem um Myrelle und Beonin. Aber selbst so verstärkt erschien es blaß dem Strahlen gegenüber, das eine einzelne Frau in der wachenden Welt umgab, eine Frau, die eben nicht nur ein verschwommener Traum war.