»Hättet Ihr auch gern diese Klasse unterrichtet?«
Die Stimme an ihrer Schulter ließ Nynaeve erstarren und einen Eisklumpen in ihrem Magen entstehen. Das zweite Mal an einem Vormittag! Sie wünschte, sie habe etwas von ihrer Magenmedizin in der Tasche. Wenn sie sich weiterhin derart überraschen ließ, würde es doch noch damit enden, daß sie für irgendeine Braune die Papiere sortieren mußte.
Selbstverständlich war diese Domanifrau mit den Apfelbäckchen keine Aes Sedai. In der Weißen Burg wäre Theodrin vermutlich bereits zur Schwester erhoben worden, aber hier stand sie nun zum einen über den anderen Aufgenommenen, aber doch noch unter den Aes Sedai. Sie trug den Ring der Großen Schlange an der rechten Hand und nicht an der linken, und ihr grünes Kleid paßte gut zu ihrem Bronzeteint, doch sie durfte sich keine Ajah aussuchen und die Stola nicht tragen.
»Ich habe besseres zu tun, als einem Haufen dickköpfiger Novizinnen Wissen einzutrichtern.«
Theodrin lächelte nur, weil Nynaeves Stimme so schnippisch klang. Sie war in Wirklichkeit an sich recht nett. »Eine dickköpfige Aufgenommene, die dickköpfige Novizinnen unterrichtet?« Normalerweise war sie nett. »Nun, sobald wir Euch einmal soweit haben, daß Ihr die Macht gebrauchen könnt, ohne ihnen ständig Kopfnüsse zu verpassen, werdet Ihr auch Novizinnen unterrichten. Und es würde mich nicht überraschen, wenn Ihr bald danach zur Schwester erhoben würdet, bei all den Dingen, die Ihr schon entdeckt habt. Übrigens habt Ihr mir nie verraten, was Euer Trick war.« Die Wilden hatten fast immer irgendeinen Trick entwickelt, wenn sie ihre Fähigkeit zum Gebrauch der Macht einmal erkannt hatten. Das andere, was die meisten Wilden miteinander gemein hatten, war ein Block, den sie in ihrem Geist aufgebaut hatten, um ihre Fähigkeit vor allen und sogar vor sich selbst zu verbergen.
Nynaeve beherrschte mit Mühe ihre Gesichtszüge. In der Lage sein, jederzeit nach Wunsch die Macht zu gebrauchen. Zur Aes Sedai erhoben zu werden. Keines davon würde das Problem Moghedien lösen, aber dann wäre es ihr möglich, zu gehen, wohin sie wollte und zu untersuchen, was sie wollte, ohne sich dauernd rechtfertigen zu müssen und zu hören, dies oder das sei nicht heilbar. »Menschen erholten sich, obwohl das nicht zu erwarten war. Ich wurde so wütend, weil jemand sterben würde und das all meine Kenntnisse über Kräuter nicht ausreichten...« Sie zuckte die Achseln. »Und sie erholten sich wieder.«
»Viel besser als bei mir.« Die schlanke Frau seufzte. »Ich konnte es fertigbringen, daß ein Junge mich küssen wollte, oder auch nicht. Mein Block betraf Männer und hatte nichts mit Zorn zu tun.« Nynaeve blickte sie ungläubig an und Theodrin lachte. »Nun, es hatte schon auch mit Gefühlen zu tun. Falls ein Mann zugegen war, den ich entweder sehr mochte oder überhaupt nicht leiden konnte, war ich fähig, die Macht zu gebrauchen. Wenn ich weder das eine, noch das andere empfand oder wenn gar kein Mann zugegen war, hätte ich genauso ein Baum sein können, was den Gebrauch Saidars betraf.«
»Wie habt Ihr nur diesen Block durchbrechen können?« fragte Nynaeve neugierig. Elayne ließ die Novizinnen mittlerweile paarweise üben, und sie bemühten sich unbeholfen, kleine Flammen von der einen zur anderen wandern zu lassen.
Theodrins Lächeln wurde breiter, doch eine leichte Röte färbte ihre Wangen. »Ein junger Mann namens Charel, ein Knecht in den Stallungen der Burg, hat mir schöne Augen gemacht. Ich war fünfzehn, und er hatte ein wundervolles Lächeln. Die Aes Sedai ließen ihn bei meinem Unterricht zugegen sein und still in einer Ecke sitzen, damit ich überhaupt in der Lage war, die Macht zu gebrauchen. Was ich nicht wußte: Sheriam hatte es so arrangiert, daß er mich überhaupt kennenlernte.« Ihre Wangen liefen noch dunkler an. »Ich wußte auch nicht, daß er eine Zwillingsschwester hatte und daß nach ein paar Tagen nicht mehr Charel in der Ecke saß, sondern seine Schwester Marel. Als sie dann eines Tages während des Unterrichts Jacke und Hemd auszog, war ich so erschrocken, daß ich in Ohnmacht fiel. Doch von dem Tag an konnte ich die Macht gebrauchen, wann immer ich wollte.«
Nynaeve lachte schallend los — sie konnte sich nicht helfen —, und trotz ihrer Schamröte lachte Theodrin ungehemmt mit. »Ich wünschte, es wäre auch für mich so einfach, Theodrin.«
»Ob einfach oder nicht«, sagte Theodrin, die nun wieder ernst wurde, »wir werden in jedem Fall Euren Block beseitigen. Heute nachmittag...«
»Ich untersuche heute nachmittag Siuan«, warf Nynaeve hastig ein, und Theodrin verzog den Mund.
»Ihr habt mich gemieden, Nynaeve. Im vergangenen Monat habt Ihr es erreicht, Euch bis auf drei Sitzungen vor allen anderen zu drücken. Ich kann ja akzeptieren, wenn Ihr euch bemüht und scheitert aber ich akzeptiere nicht, wenn Ihr euch aus Angst vor Fehlschlägen drückt.«
»Tue ich nicht«, fing Nynaeve beleidigt an, während eine kleine Stimme in ihr selbst fragte, warum sie die Wahrheit vor sich selbst verschleierte. Es war so entmutigend, es immer und immer wieder zu versuchen —und zu versagen.
Theodrin ließ sie nach diesen wenigen Worten nicht mehr zu Wort kommen. »Da Ihr heute ja wohl andere Verpflichtungen habt«, sagte sie ruhig, »werde ich Euch morgen sehen und jeden weiteren Tag danach, sonst sehe ich mich gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen. Das will ich nicht, und Ihr wollt es bestimmt auch nicht, aber ich habe vor, Euren Block niederzubrechen. Myrelle hat mich darum gebeten, mir besondere Mühe damit zu geben, und ich schwöre, das werde ich.«
Das war ja nun fast ein Echo dessen, was sie Siuan gesagt hatte, und so klappte Nynaeves Kinnlade auch dementsprechend herunter. Es war das erste Mal, daß eine andere Frau ihr gegenüber die verstärkte Autorität ihrer Position geltend gemacht harte. Das sähe ihrem Glück am heutigen Tag ähnlich, falls sie und Siuan Seite an Seite bei Tiana anrücken mußten.
Theodrin wartete nicht auf eine Antwort. Sie nickte einfach, als sei Nynaeve einverstanden gewesen, und dann schritt sie die Straße hinauf. Nynaeve konnte fast eine gefranste Stola um ihre Schultern liegen sehen. Dieser Vormittag verlief aber absolut nicht gut. Und wieder Myrelle! Sie hätte am liebsten geschrien.
Drüben bei den Novizinnen warf ihr Elayne ein stolzes Lächeln zu, doch Nynaeve schüttelte lediglich den Kopf und wandte sich ab. Sie würde jetzt zurück in ihr Zimmer gehen. Es war so typisch für die Art, wie dieser Tag verlief, daß sie noch nicht einmal auf halbem Weg Dagdara Finchley begegnete, genauer gesagt, Dagdara prallte überrascht auf sie, und sie fiel platt auf den Rücken. Sie mußte ausgerechnet jetzt rennen! Eine Aes Sedai! Die grobschlächtige Frau blieb nicht einmal stehen und hatte es auch nicht nötig, wenigstens eine Entschuldigung nach hinten zu rufen, während sie weiter ihren Weg durch die Menge pflügte.
Nynaeve raffte sich hoch, klopfte sich den Staub von der Kleidung, stampfte wütend weiter bis zu ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Es war heiß hier und eng, die Betten waren nicht gemacht, weil sich Moghedien noch nicht darum kümmern konnte, und das Schlimmste überhaupt war dieses überwältigende Gefühl, daß jeden Moment ein furchtbarer Hagelsturm über Salidar hereinbrechen mochte. Aber hier würde sich wenigstens niemand an sie heranschleichen oder sie niedertrampeln.
So lag sie dann auf den zerknitterten Laken und spielte mit dem silbrigen Armreif. Ihre Gedanken schweiften von der Frage, was sie heute wohl an neuen Informationen aus Moghedien herausbekommen könne, bis Siuan und ob sie wie versprochen am Nachmittag auftauchte, von Lan bis zu ihrem geistigen Block und weiter, ob sie in Salidar bleiben werde. Es wäre ja eigentlich kein richtiges Weglaufen. Sie würde wahrscheinlich nach Caemlyn gehen, zu Rand, denn er brauchte unbedingt jemanden, der ihm den Kopf zurechtrückte, wenn er zu eingebildet wurde, und Elayne würde es außerdem auch gefallen. Irgendwie kam ihr die Abreise — kein Davonlaufen! — jetzt, nachdem sie Theodrins Absichten nun kannte, noch reizvoller vor.