Einer der Falkner hob einen schlanken, grauen Vogel mit schwarzen Schwingen und einer Haube über dem Kopf zu Morgase hoch. Silberglöckchen an den Halteriemen des Falken bimmelten leise, als der Vogel sein Gewicht auf dem Handschuh des Falkners verlagerte.
»Ich danke Euch, aber für heute habe ich genug von der Jagd«, sagte Morgase zu ihm, dann erhob sie die Stimme: »Meister Gill, ruft die Eskorte zusammen. Ich kehre in die Stadt zurück.«
Gill fuhr zusammen. Er wußte recht gut, daß er nur dazu da war, um hinter ihr herzureiten, aber nun begann er damit, zu winken und den Weißmänteln Befehle zuzurufen, als glaube er im Ernst, sie würden ihm gehorchen. Was sie selbst betraf, ließ Morgase ihre schwarze Stute auf dem Fuß wenden. Natürlich ließ sie das Tier nicht schneller als im versammelten Schritt weitergehen. Norowhin wäre wie der Blitz zugegen gewesen, hätte er die Möglichkeit ins Auge gefaßt, sie wolle entkommen.
Aber auch so galoppierten die Weißmäntel — ganz ohne ihre gewohnten weißen Umhänge — heran und bildeten eine Eskorte, bevor die Stute auch nur zehn Schritte zurückgelegt hatte, und noch vor Erreichen des Rains um die Weide war Norowhin an ihrer Seite, ein Dutzend Männer voraus und der Rest nicht weit hinter ihm. Die Diener und Musiker und Falkner ließen sie zurück. Sie sollten alles zusammenpacken und ihnen dann folgen, so schnell es ihnen möglich war.
Gill und Paitr nahmen ihre Plätze gleich hinter ihr ein, und die Hofdamen folgten ihnen. Marande trug ihr Lächeln nun wie ein Zeichen des Triumphs zur Schau. Allerdings hatten ein paar der anderen die Stirnen mißbilligend gerunzelt. Nicht zu deutlich natürlich, denn auch wenn die Frau sich Niall beugen mußte, besaß sie doch genug Macht in Amadicia, um sie Vorsicht walten zu lassen, aber immerhin bemühten sich die meisten, ihre unerwünschte Aufgabe dennoch gut zu erfüllen. Der größere Teil hätte wahrscheinlich sogar Morgase freiwillig und gern gedient, aber sie wohnten nur äußerst ungern in der Festung des Lichts.
Morgase hätte gelächelt, wäre sie sicher gewesen, daß Marande es nicht sehen könnte. Der einzige Grund, warum sie nicht schon vor Wochen darauf bestanden hatte, die Frau wegzuschicken, war deren loses Mundwerk gewesen. Marande genoß es, bei ihr zu sticheln, wie sehr Andor doch ihrem Zugriff entglitten sei, aber die Namen, die sie zu diesem Zweck ausgewählt hatte, waren Balsam auf Morgases Seele. Alles Männer und Frauen, die sich während der Auseinandersetzung um die Thronfolge gegen sie gestellt hatten, alles Speichellecker Gaebrils. Von ihnen erwartete sie genau das und nicht mehr. Hätte Marande andere erwähnt, wäre das Ergebnis ganz anders ausgefallen. Lord Pelivar oder Abelle oder Luan, Lady Arathelle oder Ellorien oder Aemlyn und andere. Die waren aber bei Marandes Sticheleien niemals aufgetaucht, und ganz gewiß hätte die Frau ihre Namen erwähnt, wäre aus Andor auch nur der Hauch irgendeines Gerüchts über sie aufgetaucht. Solange Marande sie nicht nannte, bestand wenigstens noch Hoffnung, daß sie noch keinen Kniefall vor al'Thor getan hatten. Sie hatten damals Morgases Anspruch auf den Thron von Anfang an unterstützt, und wenn es das Licht wollte, würden sie auch jetzt noch dazu stehen.
Fast kahle Wälder teilten sich über einer Straße aus steinhart verbackenem Lehm, und auf dieser ritten sie südwärts nach Amador weiter. Waldstreifen wechselten sich ab mit Gestrüpp und ummauerten, brachliegenden Feldern. Das eine oder andere Steingebäude mit Strohdach und einer Scheune dahinter stand ein wenig von der Straße entfernt. Viele Leute benützten die Straße, und so stand beständig eine Staubwolke darüber, Morgase band sich ein seidenes Taschentuch vor das Gesicht, obwohl die Leute schnell zur Seite rannten, nachdem sie ihre Truppe bewaffneter und gerüsteter Männer gesichtet hatten. Manche eilten sogar unter die Bäume oder sprangen über die Mäuerchen und rannten querfeldein weiter. Die Weißmäntel beachteten sie nicht, und es erschienen auch keine Bauern, die den querfeldein Rennenden wütend hinterhergeschrien oder die Fäuste geschüttelt hätten. Einige der Höfe wirkten verlassen, da nicht einmal Hühner oder andere Tiere zu sehen waren.
Unter der Menschenmenge auf der Straße sah man hier einen Ochsenkarren, dort einen Mann, der einige Schafe einhertrieb, ein Stück weiter eine junge Frau mit einer Herde Gänse. Diese Menschen waren ganz offensichtlich Einheimische. Manche hatten sich ein Bündel oder eine Mappe am Tragriemen über die Schulter gehängt, doch die meisten kamen mit leeren Händen und wirkten, als hätten sie keine Ahnung, wohin sie eigentlich gingen. Menschen dieser Art waren immer häufiger anzutreffen, wenn Morgase gestattet worden war, Amador zu verlassen, und es spielte keine Rolle dabei, in welche Richtung sie ritt.
Morgase rückte das Taschentuch über ihrer Nase zurecht und beäugte Norowhin von der Seite her. Er war ungefähr so alt und so groß wie Tallanvor, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Sein rotes Gesicht unter dem glänzenden, kegelförmigen Helm schälte sich gerade nach gewaltigem Sonnenbrand, und eine Schönheit war er auch nicht gerade. Seine schlaksige Gestalt und die hervorstehende Nase ließen sie an eine Spitzhacke denken. Jedesmal, wenn sie die Festung des Lichts verließ, führte er ihre ›Eskorte‹, und jedesmal bemühte sie sich, ihn endlich einmal in ein Gespräch zu verwickeln. Weißmantel oder nicht, jeder Fingerbreit, um den sie ihn von der Rolle ihres Gefängniswärters abbringen konnte, wäre ein Erfolg. »Fliehen diese Menschen vor dem Propheten, Norowhin?« Das konnte nicht für alle zutreffen, denn genauso viele wanderten nach Norden wie nach Süden.
»Nein«, sagte er knapp, ohne sie auch nur anzusehen. Seine Blicke suchten die Straßenseiten ab, als erwarte er jeden Moment eine bewaffnete Truppe, die sie retten sollte.
Das war unglücklicherweise die gleiche Art von Antwort, die sie jedesmal von ihm erhielt. Doch sie war hartnäckig. »Wer sind sie? Sicher keine Taraboner. Ihr leistet gute Arbeit, wenn Ihr sie immer in Bewegung haltet.« Sie hatte beobachtet, wie eine größere Gruppe von Tarabonern, ungefähr fünfzig Leute, Männer, Frauen und Kinder, schmutzig und vor Erschöpfung stolpernd, von berittenen Weißmänteln wie Vieh weitergetrieben worden war. Nur das bittere Wissen darum, daß sie völlig machtlos war, hatte sie dazu in die Lage versetzt, ihren Mund zu halten. »Amadicia ist ein reiches Land. Selbst diese Dürre kann nicht so viele in nur wenigen Monaten von ihrem Land vertrieben haben.«
In Norowhins Gesicht arbeitete es. »Nein«, sagte er schließlich. »Sie fliehen vor dem falschen Drachen.«
»Aber wieso? Er befindet sich Hunderte von Meilen von Amadicia entfernt.«
Wieder wurde ein innerer Kampf auf dem sonnenverbrannten Gesicht des Mannes deutlich. Entweder rang er um Worte, oder er wollte nichts sagen. »Sie glauben, er sei der echte Wiedergeborene Drache«, sagte er endlich, und es klang angewidert. »Sie sagen, er habe alle Bande zerrissen, wie es geweissagt wurde.
Männer verlassen ihren Dienst bei ihren Lords, Lehrlinge rennen ihren Meistern weg ... Ehemänner verlassen ihre Familien, und Frauen ihre Männer. Es ist wie eine Seuche, die vom Wind weitergetragen wird, und dieser Wind weht von dem falschen Drachen her.«
Morgases Blick fiel auf einen jungen Mann und eine Frau, die sich eng umschlungen in den Armen hielten und zusahen, wie ihre Gesellschaft vorbeiritt. Schweißspuren zogen sich durch den Schmutz auf ihren Gesichtern, und der Staub lag dicht auf ihrer schlichten Kleidung. Sie wirkten hungrig. Ihre Wangen waren eingefallen und ihre Augen viel zu groß. Konnte dasselbe auch in Andor geschehen? Hatte Rand al'Thor Andor das gleiche angetan? Wenn ja, dann wird er dafür bezahlen. Die Schwierigkeit lag darin, daß die Heilung nicht noch schlimmer werden sollte als die Krankheit. Andor zu erlösen, und wenn es nur von diesem Schicksal war, und es dann den Weißmänteln übergeben...