Plötzlich kam das Gesicht der Hexe in unser Blickfeld. Sie schaute unter das Bett. Ich zog den Kopf geschwind wieder hinter den Bettpfosten zurück. «Da seid ihr also, meine kleinen Fröschchen», hörte ich sie sagen. «Ihr könnt bleiben, wo ihr seid, bis ich heute Abend zu Bett gehe, dann werf ich euch aus dem Fenster, den Möwen zum Fraaaße!»
Da erscholl plötzlich sehr laut und sehr klar die Stimme meiner Großmutter durch die offene Balkontür. «Beeil dich, mein Schätzelchen!», rief sie. «Beeil dich, um Himmels willen! Komm lieber gleich heraus!»
«Wer ruft da?», fauchte die Hoch- und Großmeister-Hexe. Ich äugte wieder um den Bettpfosten herum und sah, wie sie quer über den Teppich zur Balkontür ging. «Wer ist das da auf meinem Balkon?», murmelte sie. «Wer ist das? Wer wagt es, ohne Erlaubnis meinen Balkon zu betreten?» Sie marschierte durch die Tür auf den Balkon hinaus.
«Was ist das für ein Strickstrumpf, der hier herumbaumelt?», hörte ich sie fragen.
«Oh, hallo», erklang da die Stimme meiner Großmutter. «Mir ist gerade mein Strickzeug aus Versehen über das Balkongeländer gefallen. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich hab das andere Ende gerade noch erwischt. Ich kann es mir selber nach oben ziehen, aber trotzdem, herzlichen Dank.» Ich bewunderte die Ruhe und Gelassenheit ihrer Stimme.
«Mit wem haben Sie denn gerade gesprochen?», fuhr sie die Hoch- und Großmeister-Hexe an. «Wem haben Sie befohlen, sich zu beeilen und rasch rauszukommen?»
«Ich habe mich mit meinem kleinen Enkelsohn unterhalten», hörte ich meine Großmutter sagen. «Er sitzt schon seit Stunden in der Badewanne, und allmählich wird es wirklich Zeit, dass er herauskommt. Er sitzt ganz gemütlich im Wasser und liest Bücher, und dann vergisst er vollkommen, wo er sich eigentlich befindet! Haben Sie auch Kinder, meine Liebe?»
«Ganz und gar nicht!», schnarrte die Hoch- und GroßmeisterHexe, trat rasch wieder in das Schlafzimmer und knallte die Balkontür hinter sich zu.
Mir wurde heiß vor Schreck. Damit war mein Fluchtweg abgeschnitten. Ich war in einem Zimmer mit der Hoch- und Großmeister-Hexe und drei schreckensstarren Fröschen eingeschlossen. Ich war vor Angst genauso gelähmt wie diese Frösche. Ich war fest davon überzeugt, wenn sie mich entdeckte, dann würde sie mich einfangen und vom Balkon werfen, den Möwen zum Fraße.
Da klopfte es an die Zimmertür. «Was ist denn nun schon wieder?», rief die Hoch- und Großmeister-Hexe.
«Wir sind es, die Alten», zirpte eine schwache Stimme hinter der Tür. «Es ist sechs uhr, und wir sind gekommen, um uns die Flaschen abzuholen, die du uns versprochen hast, o großmächtige Hochgeborene!»
Ich sah, wie sie über den Teppich zur Tür schritt. Die Tür ging auf, und ich sah weiter, wie ein ganzes Gewimmel von Füßen und Schuhen das Zimmer zu betreten begann. Sie schuffelten so langsam und zögerlich herein, als ob die Besitzer dieser Schuhe Angst hätten, näher zu treten. «Kommt herein! Kommt herein!», fuhr sie die Hoch- und Großmeister-Hexe an. «Trödelt nicht so herum und bleibt nicht da draußen im Gorridor stehen! Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit!»
Da packte ich die Gelegenheit beim Schopfe. Ich sprang hinter dem Bettpfosten hervor und zischte wie ein Blitz zur geöffneten Tür. Ich hüpfte dabei über verschiedene Schuhe und Stiefel, und innerhalb von drei Sekunden war ich draußen auf dem Gang, wobei ich das kostbare Fläschchen immer noch an die Brust gepresst hielt. Keiner hatte mich gesehen. Keiner hatte geschrien: Eine Maus! Eine Maus! Alles, was ich hören konnte, waren die zittrigen Stimmen der alten Hexen, die diese albernen Sätze - «Wie freundlich Euer Hochgeboren ist!» - in allen Variationen von sich gaben. Ich flitzte den Flur weiter entlang, bis zum Treppenhaus und dann ein Stockwerk nach oben. In der fünften Etage sauste ich wieder den Korridor entlang, bis ich die Tür meines eigenen Schlafzimmers erreicht hatte. Gott sei Dank war niemand zu sehen.
Ich benutzte den Boden der kleinen Flasche und begann damit Pochpoch an die Tür zu klopfen. Pochpochpoch, poch poch poch... poch poch poch... Ob mich meine Großmutter hören konnte? Ich meinte, sie müsste es eigentlich. Jedes Mal wenn ich mit der Flasche zuschlug, verursachte sie ein ziemlich lautes Pochen. Poch poch poch... Poch poch poch... Hauptsache, es kam keiner den Gang entlang.
Die Tür öffnete sich aber immer noch nicht. Da beschloss ich, das Wagnis auf mich zu nehmen. «Großmama!», rief ich so laut wie möglich. «Großmama! Ich bin's! Lass mich herein!»
Ich konnte hören, wie ihre Füße über den Teppich schurrten, und dann ging die Tür auf. Ich schoss wie ein Blitz hinein. «Ich hab's geschafft!», schrie ich und hüpfte dabei auf und nieder. «Ich hab's geschafft, Großmama! Schau, hier ist es! Ich hab eine ganze Flasche ergattert!»
Sie schloss die Tür. Sie beugte sich nieder und hob mich auf und umarmte mich. «Oh, mein Schätzelchen!», rief sie. «Dem Himmel sei Lob und Dank, dass du wieder in Sicherheit bist!» Sie nahm mir das Fläschchen ab und las laut vor, was auf dem Etikett stand: «Formula 86 retard / Mausemutarium!» Und weiter: «Diese Flasche enthält 500 Dosen!» - «Du tüchtiger tapferer Junge! Du bist wirklich ein Wunder! Du bist eine Meistermaus! Wie bist du um Himmels willen aus ihrem Zimmer gekommen?»
«Ich bin rausgewitscht, als die Alten eintrudelten!», erklärte ich ihr. «Es war alles ein bisschen knapp, Großmama. Das würd ich nicht nochmal machen wollen.»
«Ich hab sie auch gesehen!», sagte meine Großmutter.
«Ich weiß, Großmama. Ich habe zugehört, wie ihr miteinander gesprochen habt. Findest du nicht auch, dass sie ganz, ganz böse ist?»
«Sie ist eine Mörderin», antwortete meine Großmutter. «Sie ist das böseste Weib auf der ganzen Welt!»
«Hast du ihre Maske gesehen?», fragte ich.
«Die ist fabelhaft», entgegnete meine Großmutter. «Sie sieht wirklich wie ein Gesicht aus. Ich hab doch gewusst, dass es nur eine Maske ist, aber ich hätte es trotzdem nicht erkennen können. Oh, mein Schätzelchen!», schluchzte sie und umarmte mich heftig. «Ich dachte schon, ich würde dich nie wieder sehen. Ich bin so froh, dass du mit heiler Haut davongekommen bist.»
Mister und Missis Jenkins treffen Bruno
Meine Großmutter trug mich in ihr Schlafzimmer zurück und setzte mich auf den Tisch. Die kostbare Flasche stellte sie neben mich. «Um wie viel Uhr essen die Hexen im Speisesaal zu Abend?», fragte sie mich.
«Um acht», erwiderte ich.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. «Es ist jetzt zehn Minuten nach sechs», sagte sie. «Wir haben nur die Zeit bis acht, um uns unseren nächsten Schritt zu überlegen.» Da fiel ihr Blick plötzlich auf Bruno. Er saß immer noch in der Bananenschüssel auf dem Tisch. Er hatte drei Bananen aufgefuttert und nahm jetzt eine vierte in Angriff. Er war richtiggehend fett geworden.
«Das reicht allmählich», entschied meine Großmutter, hob ihn aus der Schüssel und setzte ihn auf die Tischplatte. «Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir diesen kleinen Burschen in den Schoß seiner Familie zurücktransportieren. Findest du nicht auch, Bruno?»
Bruno runzelte die Stirn und schaute sie an. Ich hatte vorher noch nie eine Maus gesehen, die die Stirn kraus zieht, aber er brachte das zustande. «Meine Eltern lassen mich so viel essen, wie ich will», sagte er. «Ich will lieber bei denen sein als bei Ihnen.»