«Es ist Zeit für uns, aufzubrechen», sagte meine Großmutter. «Unsere Arbeit ist getan.» Sie kletterte von ihrem Stuhl, nahm ihre Handtasche und hängte sie sich an den Arm. Mich hatte sie in ihrer rechten Hand und Bruno in der linken. «Bruno», sagte sie, «jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem du in den sprichwörtlichen Schoß der Familie zurückkehren wirst.»
«Meine Mami mag aber keine Mäuse», sagte Bruno.
«Das hab ich auch bemerkt», entgegnete meine Großmutter. «Sie muss sich einfach an dich gewöhnen, meinst du nicht auch?»
Es war nicht schwer, Mister und Missis Jenkins zu finden. Die schrille Stimme von Missis Jenkins war im ganzen Saale zu hören. «Herbert!», schrie sie. «Herbert, bring mich hier raus! Überall Mäuse! Sie werden mir unter den Rock krabbeln!» Sie hatte ihre Arme um den Hals ihres Mannes geschlungen, und von meinem Standpunkt sah es so aus, als ob sie an seinem Halse hinge.
Meine Großmutter trat auf sie zu und drückte Bruno Mister Jenkins in die Hand. «Hier ist Ihr kleiner Sohn», sagte sie. «Sie sollten ihn auf Schlankheitsdiät setzen.»
«Hallo, Vati!», sagte Bruno. «Hallo, Mami!»
Missis Jenkins stieß einen noch ohrenbetäubenderen Schrei aus. Meine Großmutter, mit mir in der Hand, wandte sich ab und marschierte aus dem Raum. Sie ging geradewegs durch die Hotelhalle und durch den Haupteingang ins Freie.
Es war ein milder warmer Abend, und ich konnte hören, wie die Wellen nur auf der anderen Seite der Straße an den Strand schlugen.
«Kann ich ein Taxi haben?», fragte meine Großmutter den stattlichen Portier in seiner grünen Uniform.
«Aber gewiss doch, gnädige Frau», antwortete er, schob zwei Finger in den Mund und stieß einen langen schrillen Pfiff aus. Ich betrachtete ihn voller Neid. Wochenlang hatte ich geübt, so zu pfeifen wie er, aber es war mir kein einziges Mal gelungen. Jetzt würde ich es wohl niemals können.
Das Taxi kam. Der Fahrer war ein älterer Mann mit einem dichten schwarzen Schnurrbart, der ihm wie die Wurzeln einer Pflanze über dem Mund hing. «Wohin soll's denn gehn, meine Dame?», fragte er. Dabei fiel sein Blick auf mich, eine kleine Maus, die sich in die Hand der alten Frau schmiegte. «Donnerlittchen!», sagte er, «was ist denn das?»
«Das ist mein Enkelsohn», antwortete meine Großmutter. «Fahren Sie uns bitte zum Bahnhof.»
«Mäuse hab ich immer gemocht», sagte der alte Taxifahrer. «Früher, als ich noch ein kleiner Junge war, da hab ich mir Hunderte gehalten. Mäuse sind die schnellsten Brüter der Welt. Haben Sie das gewusst, meine Dame? Wenn er also Ihr Enkelsohn ist, dann werden Sie wohl in ein paar Wochen außer ihm noch einen ganzen Schwung Urenkel haben.»
«Fahren Sie uns bitte zum Bahnhof», sagte meine Großmutter und spitzte missbilligend die Lippen.
«Jawohl, meine Dame», sagte er. «Sofort.»
Meine Großmutter stieg hinten in die Taxe ein, setzte sich zurecht und nahm mich auf ihren Schoß.
«Fahren wir heim?», fragte ich sie.
«Ja», antwortete sie. «Zurück nach Norwegen.»
«Hurra!», rief ich. «O hurra, hurra, hurra!»
«Ich hab mir gedacht, dass dir das gefallen wird», sagte sie.
«Und was ist mit unserem Gepäck?»
«Wer braucht schon Gepäck?», fragte sie.
Das Taxi fuhr durch die Straßen von Bournemouth, und zu dieser Tageszeit war alles voll von Feriengästen, die ziellos durch die Gegend schlenderten und nichts zu tun hatten. «Wie fühlst du dich, mein Schätzelchen?», fragte meine Großmutter.
«Gut», antwortete ich. «Ganz wunderbar.»
Sie begann, mir das Nackenfell mit einem Finger zu streicheln. «Wir haben heute Großes geleistet», sagte sie.
«Es ist großartig gewesen», sagte ich. «Absolut großartig.»
Das Herz einer Maus
Es war herrlich, wieder in Norwegen, wieder in dem schönen alten Haus meiner Großmutter zu sein. Weil ich jetzt aber so klein war, kam mir alles anders vor, und ich brauchte eine Zeit, um mich überall zurechtzufinden. Meine Welt bestand aus Teppichen und Tischbeinen und Stuhlbeinen und den kleinen Schlupfwinkeln hinter den großen Möbelstücken. Eine verschlossene Tür konnte nicht geöffnet werden, und was sich auf einem Tisch befand, blieb unerreichbar. Nach ein paar Tagen begann meine Großmutter jedoch, Kleinigkeiten für mich zu erfinden, die mir das Leben etwas leichter machen sollten. Sie bestellte einen Tischler, der eine Reihe von langen, aber sehr schmalen Trittleitern baute, und sie lehnte eine an jeden Tisch im ganzen Hause, sodass ich immer hinaufklettern konnte, wenn ich es wollte. Außerdem konstruierte sie aus Draht und Federzügen und Rollen und schweren Gewichten, die an langen Stricken hingen, selber einen überaus kunstreichen Türöffner, und bald war auch jede Tür im ganzen Hause damit ausgerüstet. Ich brauchte nur mit den Vorderpfoten auf ein kleines Holzbrett zu tippen, und -schwups - schon zog sich eine Feder, ein Gewicht wurde ausgelöst, und die Tür schwang auf.
Als Nächstes entwickelte sie ein sinnreiches System, mittels dessen ich überall das Licht anknipsen konnte, wenn ich nachts ein Zimmer betrat. Ich kann nicht erklären, wie es funktionierte, weil ich nichts von Elektrizität verstehe, aber in jedem Zimmer des Hauses war neben der Tür ein kleiner Knopf in den Fußboden eingelassen, und wenn ich meine Pfote auch nur leicht auf den Knopf legte, ging das Licht an.
Wenn ich noch einmal drückte, ging das Licht wieder aus. Meine Großmutter machte mir eine winzige Zahnbürste. Sie benutzte ein Streichholz als Griff, und da hinein bohrte sie kleine Borstenstücke, die sie von einer ihrer Haarbürsten abschnippelte. «Du darfst keine Löcher in den Zähnen bekommen», sagte sie. «Ich kann doch eine Maus nicht zum Zahnarzt bringen! Er würde mich für verrückt erklären!»
«Komisch», sagte ich, «aber seit ich eine Maus bin, ist mir der Geschmack von Süßigkeiten und Schokolade zuwider. Deshalb glaub ich, dass ich gar keine Löcher kriege.»
«Trotzdem, nach jeder Mahlzeit werden die Zähne geputzt!», befahl meine Großmutter, und ich gehorchte ihr. Als Badewanne gab sie mir eine silberne Zuckerschale, und darin badete ich mich jeden Abend, bevor ich zu Bett ging. Sie wollte niemanden mehr im Hause haben, nicht einmal eine Bedienerin oder einen Koch. Wir lebten ganz zurückgezogen, und einer war mit der Gesellschaft des anderen sehr glücklich und zufrieden. Als ich eines Abends vorm Kaminfeuer auf dem Schoß meiner Großmutter lag, sagte sie zu mir: «Ich möchte wirklich wissen, was mit dem kleinen Bruno passiert ist.»
«Es würde mich nicht wundern, wenn ihn sein Vater dem Portier in die Hand gedrückt hätte, damit er ihn im Löscheimer ertränkt», antwortete ich.
«Ich fürchte, du könntest Recht haben», seufzte meine Großmutter. «Das arme kleine Ding.»
Wir versanken für eine Weile in Schweigen, während meine Großmutter ihre schwarze Zigarre paffte und ich gemütlich in der Wärme vor mich hin döste.
«Kann ich dich etwas fragen, Großmama?», sagte ich endlich.
«Du kannst mich alles fragen, was du willst, mein Schätzelchen.»
«Wie lange lebt eine Maus?»
«Aha», erwiderte sie. «Auf diese Frage habe ich schon gewartet.» Wieder herrschte Schweigen. Sie saß da und rauchte und schaute ins Feuer.
«Na gut», fing ich an. «Wie lange leben wir, wir Mäuse?»
«Ich habe mich über Mäuse informiert», erwiderte sie. «Ich habe versucht, alles über sie herauszufinden, was es überhaupt von ihnen zu wissen gibt.»
«Schieß los, Großmama. Warum sagst du's mir denn nicht?»
«Wenn du's wirklich wissen willst», sagte sie, «so muss ich dir leider gestehen, dass Mäuse nicht sehr lange leben.»
«Wie lange?», fragte ich.
«Tja, eine gewöhnliche Maus lebt nur ungefähr drei Jahre», erwiderte sie. «Aber du bist keine gewöhnliche Maus. Du bist ein Mäusemensch, und das ist ganz etwas anderes.»