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«Wie anders denn?», fragte ich. «Wie lange lebt ein Mäusemensch, Großmama?»

«Länger», antwortete sie. «Viel länger.»

«Wie viel länger?», fragte ich.

«Ein Mäusemensch wird mit größter Wahrscheinlichkeit dreimal so alt wie eine gewöhnliche Maus», sagte meine Großmutter. «Ungefähr neun Jahre.»

«Gut!», rief ich. «Das ist großartig! Das ist die beste Nachricht, die ich jemals gehört habe.»

«Warum sagst du das?», fragte sie verblüfft.

«Weil ich keinen Tag länger leben will als du», entgegnete ich. «Ich könnte es nicht ertragen, wenn sich jemand anders um mich kümmerte.»

Danach schwiegen wir wieder eine Weile. Sie hatte eine köstliche Art, mich mit der einen Fingerspitze hinter den Ohren zu kraulen. Man fühlte sich himmlisch dabei.

«Wie alt bist du, Großmama?», fragte ich.

«Ich bin sechsundachtzig», antwortete sie.

«Wirst du noch acht oder neun Jahre leben?» «Das könnte schon sein», erwiderte sie. «Mit ein bisschen Glück.»

«Das musst du haben», sagte ich. «Denn bis dahin werde ich eine uralte Maus sein, und du wirst eine uralte Großmutter sein, und dann können wir beide miteinander sterben.» «Das wäre ideal», sagte sie.

Danach machte ich ein kleines Nickerchen. Ich schloss nur die Augen und dachte an gar nichts und fühlte mich im Einklang mit der ganzen Welt.

«Soll ich dir noch etwas von dir erzählen, etwas sehr Interessantes?», fragte meine Großmutter.

«O ja, bitte, Großmama», erwiderte ich, ohne die Augen zu öffnen.

«Zuerst konnte ich es gar nicht glauben, aber offensichtlich ist es vollkommen wahr», begann sie.

«Was denn?», fragte ich.

«Das Herz einer Maus», sagte sie, «und das bedeutet: Dein Herz schlägt fünfhundertmal in der Minute. Ist das nicht fabelhaft?»

«Das ist gar nicht möglich», antwortete ich und riss meine Augen weit auf.

«Es ist so wahr, wie ich hier sitze», sagte sie. «Es ist eine Art von Wunder.»

«Das sind ja fast neun Schläge pro Sekunde», rief ich, nachdem ich es im Kopf ausgerechnet hatte.

«Richtig», antwortete sie. «Dein Herz schlägt so schnell, dass man die einzelnen Schläge unmöglich hören kann. Was man hört, ist ein sanftes Summen.»

Sie trug ein Spitzenkleid, und die Spitze kitzelte mich in der Nase. Ich musste meinen Kopf auf meine Vorderpfoten legen.

«Hast du mein Herz schon mal summen gehört?», fragte ich sie.

«Oft», erwiderte sie. «Ich höre es immer, wenn du nachts dicht neben mir auf dem Kopfkissen liegst.»

Danach blieben wir beide lange Zeit schweigend vorm Feuer sitzen und dachten über diese wunderbaren Dinge nach.

«Mein Schätzelchen», sagte sie schließlich. «Bist du auch ganz bestimmt nicht traurig, dass du für den Rest deines Lebens eine Maus bleiben musst?»

«Das ist mir ganz egal», antwortete ich. «Es spielt gar keine Rolle, wer man ist oder wie man aussieht, solange einen nur jemand liebt.»

Wir gehen wieder an die Arbeit

An diesem Abend aß meine Großmutter ein einfaches Omelette mit einer Scheibe Brot. Ich bekam ein Stück von diesem braunen norwegischen Ziegenmilchkäse, den man Gjetost nennt und den ich schon gerne gegessen hatte, als ich noch ein Junge war. Wir aßen vorm Kaminfeuer, meine Großmutter in ihrem Sessel und ich auf dem Tisch, der Käse auf einem kleinen Teller vor mir.

«Großmama», sagte ich. «Jetzt haben wir doch die Hoch-und Großmeister-Hexe erledigt - werden da die anderen Hexen auf der Welt allmählich verschwinden?»

«Nein, das werden sie ganz bestimmt nicht tun», antwortete sie.

Ich hörte auf zu kauen und starrte sie an. «Aber das müssen sie doch!», rief ich. «Das müssen sie sicher!» «Ich fürchte nein», wiederholte sie.

«Aber wenn sie nicht mehr da ist, woher kriegen sie denn das viele Geld, das sie brauchen? Und wer gibt ihnen jetzt die Befehle und treibt sie zum Jahrestreffen zusammen und erfindet ihnen ihre Zaubermittel?»

«Wenn eine Bienenkönigin stirbt, gibt es immer eine zweite Biene im Stock, die dazu geschaffen ist, ihren Platz einzunehmen», erklärte meine Großmutter. «Mit den Hexen ist es genauso. In dem großen Hauptquartier, wo die Hoch- und Großmeister-Hexe lebt, gibt es immer noch eine zweite Hoch-und Großmeister-Hexe, die geduldig darauf wartet, im Fall einer Katastrophe die Führung zu übernehmen.»

«O nein!», rief ich. «Das bedeutet ja, dass alles, was wir getan haben, umsonst war! Bin ich für nichts und wieder nichts eine Maus geworden?»

«Wir haben die Kinder von England gerettet», sagte sie.

«Das würde ich nicht als Nichts bezeichnen.»

«Ich weiß, ich weiß!», rief ich. «Aber das ist doch längst nicht genug! Ich bin fest davon überzeugt gewesen, jetzt, wo wir ihre Anführerin erledigt haben, schwänden alle Hexen der Welt allmählich dahin. Und nun erzählst du mir, dass alles genauso weitergeht, wie es vorher war!»

«Nicht genauso wie davor», widersprach meine Großmutter. «In England gibt es zum Beispiel keine Hexen mehr. Das ist doch ein ganz schöner Erfolg, oder?»

«Und was ist mit dem Rest der Welt», rief ich. «Was ist mit Amerika und Frankreich und Holland und mit Deutschland? Und was ist mit Norwegen?»

«Du musst nicht denken, ich hätte in den letzten Tagen hier nur herumgesessen und gar nichts getan», sagte sie. «Ich habe mich gerade mit diesem speziellen Problem ziemlich eingehend beschäftigt und lange darüber nachgedacht.»

Während sie sprach, schaute ich zu ihrem Gesicht empor, und plötzlich merkte ich, wie ein kleines verschmitztes Lächeln heimlich um ihre Augen herum tanzte und sich bis zu den Mundwinkeln ausbreitete. «Warum lächelst du so, Großmama?», fragte ich sie.

«Ich habe einige interessante Neuigkeiten für dich», verkündete sie.

«Was für Neuigkeiten?»

«Soll ich es dir ganz von Anfang an erzählen?»

«Ach bitte, ja», sagte ich. «Gute Nachrichten hab ich zu gerne.»

Sie war mit ihrem Omelette fertig, und ich hatte genug von meinem Käse gehabt.

Sie wischte sich die Lippen mit einer Serviette ab und sagte: «Sowie wir damals wieder nach Norwegen gekommen waren, habe ich ein Ferngespräch mit England geführt.»

«Mit wem in England, Großmama?»

«Mit dem Polizeichef in Bournemouth, mein Schätzelchen. Ich sagte ihm, ich sei der oberste Polizeichef von Norwegen und hätte ein bestimmtes Interesse an gewissen Ereignissen, die sich vor kurzem im Grandhotel zugetragen hatten.»

«Halt mal, halt mal», sagte ich. «Ein englischer Polizeibeamter wird dir doch im Traum nicht abnehmen, dass du der oberste Chef der norwegischen Polizei bist!»

«Männerstimmen kann ich sehr gut nachmachen», antwortete sie. «Natürlich hat er mir geglaubt. Dieser Polizeimensch in Bournemouth fühlte sich überaus geehrt, weil ihn der Polizeichef von ganz Norwegen höchstpersönlich angerufen hatte.»

«Also, was hast du ihn gefragt?» «Ich fragte ihn nach dem Namen und der Anschrift jener Dame, die im Grandhotel im Zimmer 454 gewohnt hatte und verschwunden war.»

«Du meinst die Hoch- und Großmeister-Hexe!», rief ich.

«Ja, mein Schätzelchen.»

«Und hat er dir die Auskunft gegeben?»

«Selbstverständlich hat er sie mir gegeben. Ein Polizist wird immer einem anderen Polizisten helfen.»

«Donnerwetter, du hast wirklich Nerven, Großmama!»

«Ich wollte ihre Adresse haben», sagte meine Großmutter.