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Ich schlüpfte vorsichtig in den Saal. Was war das für ein herrlich geheimer und ruhiger Ort. Die Tagung der Königlichen Gesellschaft zur Vermeidung von Kindesmisshandlungen hatte wohl schon ganz früh am Tage stattgefunden, und jetzt waren sie alle nach Hause gegangen. Selbst wenn das nicht stimmte, selbst wenn sie plötzlich hereingeströmt kämen, so mussten das doch ausgesprochen nette Leute sein, die einen jugendlichen Mäusetrainer bei der Arbeit nur mit Wohlwollen betrachten würden.

Im Hintergrund des Saales stand ein großer Wandschirm, der über und über mit chinesischen Drachen bemalt war. Ich beschloss, einfach aus Sicherheitsgründen, mich hinter diesen Wandschirm zurückzuziehen und das Training dort stattfinden zu lassen. Vor den Verhinderern von Kindesmisshandlungen hatte ich kein bisschen Angst, aber es bestand ja immer die Möglichkeit, dass Mister Stringer, der Hoteldirektor, seinen Kopf in den Saal steckte. Wenn er das nun täte und meine Mäuse erblickte, dann wären die armen Dinger im Wassereimer des Portiers, ehe ich Halt schreien konnte.

Ich ging also auf Zehenspitzen zum anderen Ende des Saales und richtete mich auf dem dicken grünen Teppich hinter dem großen Wandschirm ein. Was war das für eine herrliche Ecke! Geradezu ideal für das Mäusetraining! Ich holte Willi und Marie aus meinen Hosentaschen, und sie saßen ruhig und wohlerzogen auf dem Teppich neben mir.

Das Kunststück, das ich ihnen heute beibringen wollte, war das Seiltanzen. Es ist gar nicht so schwer, eine kluge Maus zu einem erstklassigen Seiltänzer auszubilden, wenn man genau weiß, wie man vorgehen muss. Zuerst braucht man natürlich ein Seil. Das hatte ich bereits. Dann muss man ein Stück besonders guten Kuchen haben.

Die Lieblingsspeise der weißen Mäuse ist Kuchen mit Rosinen. Darauf sind sie ganz wild. Ich hatte ein Stück Rosinenkuchen mitgebracht, den ich am Tag davor beim Tee mit meiner Großmutter vorsorglich eingesteckt hatte.

Und Folgendes muss man nun tun: Man spannt das Seil fest zwischen beiden Händen, aber am Anfang nur ein kurzes Stück, nicht mehr als zehn Zentimeter. Dann setzt man die Maus auf die rechte Hand und nimmt ein Stückchen Kuchen in die linke. Die Maus ist also nur zehn Zentimeter vom Kuchen entfernt. Sie kann ihn sehen, und sie kann ihn riechen. Ihr Schnurrbart fängt vor Gier an zu zittern. Wenn sie sich vorbeugt, kann sie den Kuchen fast erreichen, aber eben nur fast. Um diesen herrlichen Happen zu erreichen, muss sie zwei Schrittchen auf dem Seil machen. Sie reckt sich also und streckt sich, setzt eine Pfote auf das Seil und dann die zweite. Wenn die Maus einen gut ausgebildeten Gleichgewichtssinn besitzt, und bei den meisten ist das der Fall, so kommt sie ganz leicht hinüber. Ich versuchte es zuerst mit Willi. Er marschierte über das Seil, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Ich ließ ihn einmal rasch vom Kuchen abbeißen, nur um seinen Appetit zu kitzeln, dann nahm ich ihn wieder in meine rechte Hand.

Diesmal verlängerte ich den Strick. Ich machte ihn fast zwanzig Zentimeter lang. Willi wusste schon genau, worauf es ankam. Er trippelte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, Schrittchen für Schrittchen über das Seil, bis er den Kuchen erreicht hatte. Ich belohnte ihn mit einem zweiten Bissen.

Nach kürzester Zeit marschierte Willi über ein siebzig Zentimeter langes Seil (oder eben genauer gesagt Bindfaden) von einer Hand zur anderen, um seinen Kuchen zu erreichen. Es war hochinteressant, ihm dabei zuzuschauen. Es schien ihm auch selber Spaß zu machen. Ich achtete immer darauf, den Strick ziemlich dicht über dem Teppich zu spannen, sodass er nicht allzu tief fallen musste, wenn er einmal das Gleichgewicht verlor. Er stürzte aber kein einziges Mal ab. Willi schien ein geborener Akrobat zu sein, eine erstklassige Seiltanz-Maus.

Danach war Marie an der Reihe. Ich setzte Willi neben mich auf den Teppich und belohnte ihn mit ein paar Extrakrümeln und einer dicken Rosine. Dann fing ich an, mit Marie genau das Gleiche zu exerzieren. Ihr müsst nämlich wissen, mein geheimer Ehrgeiz und der Traum meiner Träume bestand darin, eines Tages der Besitzer eines Weiße-Mäuse-Zirkus zu sein. Ich wollte eine kleine Bühne haben mit roten Theatervorhängen, und wenn die Vorhänge aufgezogen würden, dann könnten die Zuschauer meine weltberühmten Zirkusmäuse sehen, wie sie seiltanzen, Trapezkunststücke vorführen, Saltos schlagen, auf Trampolinen springen und was sonst noch dazu gehört. Ich würde weiße Mäuse auf weißen Ratten reiten lassen, und die Ratten müssten auf der Bühne mit Tempo und feurigem Temperament immer im Kreise reiten. Ich fing schon an, mir ganz genau auszumalen, wie ich immer erster Klasse mit meinem Weiße-Mäuse-Zirkus rund um die ganze Erde reiste und vor den gekrönten Häuptern Europas meine Vorstellungen gab.

Als ich etwa die Hälfte von Maries Trainingsprogramm hinter mir hatte, hörte ich plötzlich draußen, vor den Ballsaaltüren, Stimmen. Der Lärm wurde immer lauter. Er schwoll zu einem Stimmengewirr aus vielen Kehlen an. Ich erkannte die Stimme dieses grässlichen Hoteldirektors Mister Stringer.

Hilfe, dachte ich.

Aber immerhin gab es wenigstens diesen großen Wandschirm.

Ich kauerte mich hinter ihm zusammen und spähte durch die Ritze zwischen zwei von seinen Teilen. Dadurch konnte ich den Ballsaal in seiner ganzen Länge und Breite überblicken, ohne dass ich gesehen wurde.

«So, meine Damen, ich bin sicher, dass Sie es hier drinnen ganz nach Ihren Wünschen haben», verkündete die Stimme von Mister Stringer. Dann kam er zur Tür hereinmarschiert, in Frack und so und breitete seine Arme weit aus, um eine stattliche Schar von Damen hereinzuwedeln. «Wenn es noch irgendetwas gibt, was wir für Sie tun können, so zögern Sie bitte nicht, sondern lassen es mich sofort wissen», fuhr er fort. «Der Tee wird Ihnen nach Schluss der Sitzung auf der Sonnenterrasse serviert werden.» Damit verneigte er sich und schob sich aus dem Saal, in den nun eine ganze Herde von Damen von der Königlichen Gesellschaft zur Verhinderung von Kindesmisshandlungen hereingeströmt kam. Sie hatten alle wunderschöne Kleider an und Hüte auf dem Kopf.

Die Tagung

Nachdem nun der Hoteldirektor verschwunden war, hatte ich eigentlich keine Angst mehr. Was konnte besser sein, als in einem Saal mit lauter entzückenden Damen eingeschlossen zu sein? Vielleicht würde ich sogar mit ihnen ins Gespräch kommen, dann könnte ich ihnen vorschlagen, dass sie sich einmal in meiner Schule um die Verhinderung von Kindesmisshand-lungen kümmern sollten. Wir könnten sie dort schon gebrauchen.

Sie kamen also herein und schwatzten aus vollem Halse. Sie liefen hin und her und suchten ihre Plätze, und dabei gaben sie solche Sätze von sich wie: «Komm doch her und setz dich neben mich, meine liebste Milly.» Oder: «Oh, hallo, Beatrix! Ich hab dich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Und was für ein hinreißendes Kleid du anhast!»

Ich beschloss, zu bleiben, wo ich war, und sie ihre Tagung abhalten zu lassen, während ich mit meinem Mäusetraining fortfuhr. Aber ich beobachtete sie trotzdem noch eine Weile durch die Ritze im Wandschirm, weil ich abwarten wollte, bis sie sich endlich alle gesetzt hatten. Wie viele mochten es insgesamt sein? Ich schätzte, sicher zweihundert. Die hinteren Reihen wurden zuerst voll. Sie schienen alle so weit vom Podium entfernt sitzen zu wollen, wie es nur ging.

In der Mitte der letzten Reihe saß eine Dame mit einem kleinen grünen Hut, die sich unaufhörlich hinten am Halse kratzte. Sie konnte gar nicht aufhören. Es faszinierte mich, wie ihre Finger immer hinten unter ihren Haaren herumfuhren. Wenn sie gewusst hätte, dass sie von hinten beobachtet würde, so hätte sie das sicher nervös gemacht. Ich überlegte, ob sie wohl die Krätze hätte. Aber dann merkte ich plötzlich, dass die Dame neben ihr genau das Gleiche machte!