„Sie glauben an mich, Sie vertrauen mir, und dürfen mir dieses Vertrauen doch nicht schenken? Das verstehe ich nicht, ganz und gar nicht.“
„Und doch ist es sehr leicht erklärlich. Diese Geheimnisse sind nämlich nicht allein mein Eigentum.“
„Das lasse ich gelten.“
„Und sodann würde Ihnen die Enthüllung Schmerzen bereiten, gnädiges Fräulein.“
„Wirklich?“
„Ja, gewiß!“
„Nun, so bitte ich um so dringender um diese Enthüllung. Ich bin keineswegs ungewohnt, Schmerzen zu ertragen.“
Da nahm er sie bei der Hand, führte sie zu dem Stein und sagte in bittendem Ton:
„Nehmen Sie wieder Platz, Mademoiselle, und haben Sie die Güte, mir einige Fragen zu beantworten.“
Sie gehorchte seiner Bitte und sagte:
„Fragen Sie, Monsieur. Sie werden jede Antwort erhalten, die mir möglich ist.“
„Dann muß ich Ihnen zuvor eine Bemerkung machen, welche mir Ihren höchsten Zorn zuziehen wird; aber ich kann nicht anders; ich muß sprechen.“
„Ich glaube schwerlich, daß ich zornig über Sie werden kann. Ich habe Sie als einen Mann kennen gelernt, der nichts ohne gute Gründe tut.“
„Und dennoch wird es so sein. Mademoiselle, erschrecken Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, daß es einen Menschen gibt, der Sie liebt, wie wohl noch selten ein Mensch geliebt hat. Sie sind sein Abgott, sein Leben, seine Seligkeit. Er ist bereit, für Sie alles, alles, aber auch alles zum Opfer zu bringen, nur seine Ehre nicht. Er würde gern tausend Schmerzen erdulden, nur um Ihnen eine kleine Freude zu machen. Er sollte von seiner Liebe nicht sprechen, denn sie ist unbeschreiblich. Dieser Mann bin ich.“
Er hielt inne. Sie war bleich, sehr bleich geworden. Sie blickte ihn mit großen Augen an und sagte kein. Wort. Er nahm dies für die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen.
„Dies mußte ich voraussenden, Mademoiselle“, sagte er. „Ein Mann, der keine anderen Gedanken hat, als nur Sie, Sie allein, wird es ehrlich mit Ihnen meinen. Wenn ich frage, so habe ich die triftigsten Gründe dazu, selbst, wenn ich dieselben noch nicht angeben darf. Bitte, von wem haben Sie die Schrift erhalten? Von Abu Hassan, dem Zauberer?“
„Ja.“
„Hat er Ihnen gesagt, in welcher Beziehung er zu dem Inhalt dieser Zeilen steht?“
„Nein.“
„Und zu Ihrer Familie?“
„Nein“, antwortete sie, ihn erstaunt anblickend.
„Wann sprachen Sie mit ihm?“
„Am Abend des zweiten Tages nach jener unglücklichen Vorstellung in Thionville.“
„Wo trafen Sie ihn?“
„Im Garten von Ortry. Er hatte mich da abgelauert.“
„Darf ich das Gespräch erfahren, welches er mit Ihnen führte?“
„Ich befand mich allein im Garten, da trat er zu mir. Ich erschrak, aber er beruhigte mich.“
„Er erwähnte Liama, Ihre Mutter?“
„Ja. Er sagte mir, ihr Geist sende ihn zu mir, mich zu beschützen.“
„Er meint es gut mit ihnen, er ist ein braver, ein ehrlicher Mann. Bitte, weiter.“
„Er sagte mir auch, daß mir vom Kapitän Unheil drohe.“
„Da hatte er recht.“
„Um dieses Unheil abzuwenden, vertraute er mir zwei Talismane an.“
„Welche?“
„Diese Schrift und eine Schlange.“
„Ah! Eine von seinen Brillenschlangen?“
„Ja. Er sagte mir, wenn der Kapitän mich zu etwas zwingen wolle, was gegen mein Glück sei, so solle ich mich mit dieser Schlange verteidigen. Ihr bloßer Anblick sei geeignet, einen Angriff zurückzuweisen. Sie sei zwar nicht mehr giftig, aber ihr Maul sei doch mit Zähnen besetzt, welche Wunden verursachen, die nur sehr schwer heilen.“
„Sie haben die Schlange wirklich in Empfang genommen, ohne sich vor ihr zu fürchten?“
„Dieser Mann flößte mir großes, unbeschreibliches Vertrauen ein.“
„Er hat es verdient. Haben Sie die Schlange noch?“
„Ja. Ich habe ihr ein verborgenes Nestchen hergestellt. Sie ist bereits ganz und gar an mich gewöhnt.“
„Und niemand hat sie gesehen?“
„O doch! Der Kapitän und die Baronin haben sie heute nach Tisch gesehen. Ich ahnte, daß mir Gefahr drohe, und nahm das Tier mit mir.“
„Und diese Gefahr trat auch wirklich ein?“
„Leider. Der Kapitän wollte mich zwingen, mich dem Oberst Rallion zu verloben. Ich widerstand; der Kapitän wollte mich, wie es schien, der Freiheit berauben. Er streckte die Hände nach mir aus, um sich meiner zu bemächtigen; da hielt ich ihm die Schlange entgegen, und er ließ ab von mir.“
Wie wohl, wie unendlich wohl tat ihm diese Nachricht und diese Aufrichtigkeit. Er sagte:
„Ich danke Ihnen für das Vertrauen, welches sich in dieser Mitteilung ausspricht. Aber werden Sie nicht auch noch weiterhin des Schutzes bedürfen?“
„Ich habe Grund, dies zu vermuten, denn man hat mir nur eine Bedenkzeit bis heute zur Dämmerung gestellt.“
„Ah! Dann wird die Schlange Ihnen nichts mehr nützen. Der Kapitän wird denken, daß sie nicht giftig ist.“
„So greife ich zum zweiten Talisman.“
„In welcher Weise soll er helfen?“
„Abu Hassan sagte, wenn ich in eine sehr große Gefahr käme, solle ich die Schrift der Obrigkeit übergeben.“
„Er ist Orientale, also mehr oder weniger Phantast. Er kennt die hiesigen Verhältnisse nicht. Die Zeilen sind nicht imstande, als Deus ex machina zu Ihren Gunsten zu wirken.“
„Er versprach es mir aber.“
„Das glaube ich gern. Aber wie nun, wenn der Kapitän Sie einsperrt, so daß Sie die Schrift gar nicht an die Obrigkeit gelangen lassen können? Wie nun, wenn er sie Ihnen abnimmt und vernichtet?“
„Ah, daran dachte ich nicht.“
„Abu Hassan hat ebenso wenig daran gedacht. Und selbst wenn diese Zeilen in die Hände des Anklägers oder Richters gelangen, sind sie vollständig wertlos. Es ist da eine Geschichte erzählt, aber es fehlt vollständig die Garantie der Wahrheit derselben. Ich glaube, ein Rat von mir ist Ihnen nützlicher als diese beiden Talismane. Erwarten Sie heute einen abermaligen Angriff?“
„Mit voller Bestimmtheit.“
„Dann gibt es ein prächtiges Mittel, den Angreifer sofort niederzuschmettern. Aber bitte, erlauben Sie mir die Frage, ob Sie den Alten lieben?“
„Mir graut vor ihm. Ich berühre lieber die Brillenschlange als die Hand dieses Mannes. Und doch ist er mein Verwandter.“
„Vielleicht täuschen Sie sich da. Lieben Sie vielleicht die Baronin?“
„Nein, ich verachte sie.“
„So haben Sie auch durchaus keine Veranlassung, diese beiden zu schonen. Hören Sie also meinen Rat. Wenn heute der Kapitän einen Zwang auf Sie äußern will, so fragen Sie ihn, ob er folgende Personen gekannt habe: den Hadschi Omanah, den Sohn desselben, den Fruchthändler Malek Omar und den Gefährten desselben, welcher sich Ben Ali nannte. Haben Sie sich diese Namen gemerkt, Mademoiselle?“
„Ja. Hadschi Omanah, seinen Sohn, den Fruchthändler Malek Omar und dann Ben Ali, seinen Gefährten.“
„Gut. Die beiden ersteren wurden eines Abends von den beiden letzteren ermordet, gewisser Papiere willen, welche die Mörder an sich nahmen.“
„Mein Gott! Steht der Kapitän vielleicht in einer Beziehung zu diesem Mord?“
Der Gefragte wiegte den Kopf hin und her und erkundigte sich anstatt der direkten Antwort:
„Halten Sie ihn eines Mordes fähig?“
„Ich weiß es nicht zu sagen.“
„So lassen wir es einstweilen dahingestellt sein, warum ich Ihnen diese Namen nenne. Kennen Sie die Vergangenheit des Kapitäns?“
„Ja. Er ist pensionierter Offizier der alten Kaisergarde.“
„Hm! Haben Sie einmal den Namen Goldberg gehört?“
„Nein.“
„Oder Königsau?“
„Ja. Ich entsinne mich, daß dieses Wort von dem Grafen Rallion ausgesprochen wurde, und daß der Kapitän darauf in eine entsetzliche Aufregung geriet.“