„Hat der Kapitän Geschwister gehabt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Hat Ihr Papa, der Baron, in Deutschland vielleicht Verwandte?“
„Auch das ist mir unbekannt.“
„Das ungefähr sind die Fragen, die ich an Sie zu richten hatte. Ich habe mich orientiert, soweit dies notwendig war, und ich möchte nur noch wissen, wohin der Zauberer gegangen ist.“
„Nach der Sahara, sagte er.“
„Wird er wiederkommen?“
„Ja. Er sprach von Beweisen, welche er bringen wolle.“
„Wofür oder wozu?“
„Das verschwieg er mir.“
„So will ich Ihnen ein großes Geheimnis mitteilen. Erinnern Sie sich des Gewitters, währenddessen wir uns im alten Turm befanden?“
„Noch sehr genau“, antwortete sie.
Sie hatte doch erst vorhin an dieses Ereignis gedacht.
„Wir sahen da die Gestalt, welche an uns vorüberging und die Turmtreppe bestieg?“
„Den Geist meiner Mutter“, nickte Marion, indem ein leiser, wie geistiger Schimmer ihr Gesicht überflog.
„So dachten Sie; ich aber teilte Ihnen mit, daß ich nicht an die überirdische Natur dieser Erscheinung glaubte. Ich wollte die Gestalt verfolgen, aber Sie hielten mich zurück.“
„Ich weiß dies noch sehr genau. Alle Welt erzählt sich, daß meine arme Mutter im Grab keine Ruhe habe, weil sie nicht die Anhängerin des allein seligmachenden Glaubens gewesen sei.“
„Und alle Welt täuscht sich; denn Ihre arme Mutter ist gar nicht gestorben. Und ist sie ja gestorben, so hat sie ihre Ruhestätte in einer anderen Gegend gefunden. Wahrscheinlicher aber ist mir der erstere Fall. Ich möchte wetten, daß Liama, die Tochter der Beni Hassan, noch am Leben ist.“
Marion hatte ihm zugehört, die weitgeöffneten Augen starr auf ihn gerichtet.
„Großer Gott!“ sagte sie jetzt. „Haben Sie vielleicht Gründe zu dieser Vermutung?“
„Sogar sehr triftige. Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich der Verbündete des Zauberers war. Er kam von Afrika, um Liama, die Tochter seines Scheiks, zu suchen. Er hörte, daß sie tot sei, und er wollte sich überzeugen, ob man ihre Überreste wirklich bestattet habe. Wir haben des Nachts ihr Grab geöffnet.“
Marion stand da, selbst starr wie eine Tote. Ihre Lippen bebten, und erst nach längerer Pause stieß sie hervor:
„Das haben Sie getan? Und was haben Sie gefunden?“
„Einen mit Steinen gefüllten Sarg, eine Leiche hat nie darin gelegen.“
„Mein Heiland! Das ist ja entsetzlich. Sollte sie anderswo begraben sein?“
„Das glaube ich nicht. Welchen Grund hätte man dann gehabt, dieses Grab als das ihrige auszugeben?“
„Ja. Ich war ja als Kind selbst dabei, als man ihren Sarg hier in die Erde senkte. Es geschah das ohne Sang und Klang, ohne Predigt und Segen, weil sie ja eine ‚Heidin‘ gewesen war. Sie ist nirgends anderswo begraben.“
„So bleibt nur die Annahme, daß sie damals gar nicht gestorben ist.“
„Sie lebt also noch. Aber wo? Wo, Monsieur Müller?“
Das schöne Mädchen befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung, er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und antwortete:
„Ich vermute, daß Liama ihre Zustimmung zu dem Coup gegeben hat, welcher da ausgeführt worden ist. Welche Gründe sie dabei gehabt hat, das werden wir jedenfalls noch erfahren.“
„Und mein Vater weiß es auch?“
„Vielleicht. Ich möchte behaupten, daß sein gegenwärtiger Geisteszustand zu diesem Geheimnis in inniger Beziehung steht. Man hat Ihre arme Mutter veranlaßt, zu verschwinden, damit die jetzige Baronin ihre Stelle einnehmen könne. Warum, das werden wir vielleicht noch entdecken.“
„Aus alledem ersehe ich, daß ich die Verhältnisse meiner eigenen Familie nicht kenne, und daß ich von Geheimnissen und von – Verbrechen umgeben bin.“
„Wahrscheinlich vermuten sie da das Richtige.“
„Gott, mein Gott! An wen soll ich mich denn da halten?“
„An den, den Sie da soeben genannt haben, nämlich an Gott. Und wenn es Ihnen möglich sein sollte, zu mir ein wenig Vertrauen zu fassen, so stelle ich mich Ihnen mit Leib und Leben, mit allem, was ich habe und bin, zur Disposition.“
Da streckte sie ihm ihre beiden Hände entgegen und sagte:
„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich habe die Meinigen nie lieben und achten und mich nie in der Heimat wohlfühlen können. Ich bin mir vorgekommen, wie ohne Halt und Wurzel im Leben. Es hat in mir gelegen wie eine Ahnung, daß alles um mich her eine einzige große Lüge sei. Und nun geben Sie mir Gewißheit und zugleich die Hoffnung, daß alles Dunkel klar werden könne. Ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Sie selbst kommen mir vor wie ein Rätsel, welches ich noch zu lösen habe, aber Sie werden mir dabei helfen.“
Er trat zurück, ohne die ihm dargebotenen Hände zu ergreifen und antwortete:
„Sie haben in allen Ihren Vermutungen recht. Aber wenn auch ich Ihnen ein Rätsel bin, so werde ich Sie doch wenigstens überzeugen, daß Sie mir vertrauen können.“
„Ich bedarf keines Beweises“, fiel sie ein.
„Nun, so möge das, was ich sage, als einfache Bemerkung gesprochen sein. Ich habe Ihnen anvertraut, wie teuer Sie mir sind; dieses Geständnis, welches mir nur durch die augenblickliche Situation entlockt werden konnte, hat nicht im mindesten den Zweck, mir gegenüber die Freiheit Ihres Fühlens und Handelns zu beschränken.“
„Wie verstehen Sie das?“
„Ich weiß, daß meine Liebe eine hoffnungslose ist, ja, eine hoffnungslose sein muß, nur daher konnte ich von ihr sprechen, ohne lächerlich zu werden. Sie sind der Gedanke meiner Tage und der Traum meiner Nächte; ich bete zu Ihnen wie zu einer Heiligen, aber zu einer Heiligen kann man nicht gelangen. Sie sind die Sonne, welche den fernen Planeten erwärmt und erleuchtet, das ist alles, was er sich wünscht; in Ihre Nähe wird er nie gelangen. Mein aufrichtiges Geständnis wird nur die Folge haben, daß ich mich noch mehr zurückziehe, aber sobald Sie meiner bedürfen, werde ich mit Freuden, ja, mit Entzücken alles tun, was meinen Kräften möglich ist. Das mag der Pakt sein, den wir schließen.“
Sie zauderte eine Weile. Dann ging ein eigentümliches Leuchten über ihr Gesicht; sie streckte ihm abermals die Hände entgegen und sagte:
„Nun gut! Ganz, wie Sie wollen. Sie erlauben mir also, Sie für meinen Freund zu halten?“
„Ich bitte inständig, dies zu tun.“
„Ein solcher Vertrag muß aber bekräftigt werden, wenigstens durch einen Handschlag. Wollen Sie mir wirklich Ihre Hand verweigern?“
„Gegen Ihre Befehle kann ich nicht! Hier ist die Hand. Verfügen Sie über mich!“
„Zunächst muß ich mich für heute abend rüsten. Glauben Sie wirklich, daß die Namen, welche Sie mir nannten, geeignet sind, den Kapitän zurückzuweisen?“
„Ich hoffe es, ja, ich bin überzeugt davon!“
„Und diese arabische Handschrift. Darf ich nicht erfahren, was sie enthält?“
„Für jetzt liegt es in Ihrem eigenen Interesse, daß ich Ihnen die Übersetzung vorenthalte. Auch möchte ich das Dokument nicht sofort in Ihre Hand gelangen lassen, weil es mir da nicht sicher scheint.“
„Sie meinen, die Schlacht, welche ich dem Kapitän zu liefern habe, könne einen für mich unglücklichen Ausgang nehmen?“
„Heute werden Sie siegen, was aber dann geschieht, ist bei dem Charakter dieses Mannes nicht vorauszusehen.“
„Ich werde tapfer sein!“
„Aber Vorsicht ist ebenso nötig wie Tapferkeit. Übrigens dürfen Sie überzeugt sein, daß ich über Sie wachen werde. Also, darf ich dieses Schriftstück behalten?“
„Ja“, nickte sie; „behalten Sie es. Ich vertraue mich Ihnen an wie damals, als Sie mit mir ins Wasser gingen. Leben Sie wohl, mein Freund!“
Sie reichte ihm das schöne Händchen, welches er an seine Lippen zog. Als sie sich entfernte, blickte er ihr nach, so lange er nur konnte. Dann legte er beide Hände auf das Herz und jauchzte: