„Das brauchen sie mir aber nicht anzutun, nachdem sie bereits so lange Zeit mit mir zusammen gelebt haben.“
„Sie sind ganz angefressen.“
„Das ist eigentümlich. Wer soll sie angefressen haben, da sie es doch sind, deren größte Leidenschaft das Fressen war? Gibt es denn nicht eine friedlichere Auskunft? So eine Art freiwillige Vereinbarung?“
„Die gibt es allerdings.“
„So möchte ich bitten!“
„Ich muß Ihnen aber sagen, daß Ihnen damit nicht gedient sein kann.“
„Warum?“
„Diese Vereinbarung hat keinen langen Bestand. Der Zahnnerv läßt sich vorübergehend betäuben, fängt aber bald wieder an.“
„Aber es ist doch humaner, menschlicher gehandelt, wenn ich diesen Nerv nicht sofort töte, sondern ihm vorderhand einen kleinen Klaps gebe, damit er gewarnt ist.“
„Das ist Ihre Ansicht, aber die meinige nicht. Also, wollen wir?“
Er zog den größten seiner Schlüssel hervor und machte eine Bewegung, als gelte es, einem Elefanten den Stoßzahn aus dem Kopf zu drehen.
„Danke bestens!“ wehrte Fritz ab. „Lassen Sie die Zange, wo sie ist, und versuchen wir es lieber einmal mit einigen Tropfen. Haben Sie nicht Zimttinktur oder Odoatine?“
„Ich habe beides, kann Ihnen aber den Schmerz nicht lindern. Ein ganz neues Mittel gibt es allerdings, welches den Zahnschmerz augenblicklich und für immer stillt; aber ich kann dieses Mittel nur genauen Bekannten geben.“
„Warum?“
„Es hat eine gefährliche Seite. Ein Tropfen auf den Zahn stillt alles Weh; eine größere Quantität aber in das Essen oder Trinken macht den, der es genießt, tagelang zum Patienten, der das Bett nicht verlassen kann.“
„Das ist heimtückisch.“
„Ja. Und wie leicht kommt eine Verwechslung vor.“
„In das Essen, anstatt auf den Zahn“, nickte Fritz verständnisinnig.
„Und vierzig Tropfen, anstatt eines einzigen.“
„Ja; man verzählt sich zuweilen. Man müßte also mit diesem Mittel sehr vorsichtig sein. Riecht es stark?“
„Nein, gar nicht.“
„Welche Farbe hat es?“
„Es ist hell wie Wasser.“
„Schmeckt es schlecht?“
„Es hat gar keinen Geschmack. Gerade darum ist es so außerordentlich gefährlich, weil es von dem, der es genießt, also gar nicht bemerkt wird.“
„Sind die Nachwehen schlimm?“
„Die gibt es nicht. Das ist wieder eine gute Seite dieses Mittels.“
„So ist es mir doch noch lieber als alle Ihre Zangen und Bohrer. Darf ich es versuchen?“
„Ja. Hier haben Sie das Fläschchen. Also einen einzigen Tropfen, nicht aber vierzig.“
„Sapperlot! Wenn ich mich nun verzähle und gar achtzig nehme?“
„Das ist unmöglich, es enthält nicht mehr als vierzig Tropfen.“
„Wie gescheit. Da bin ich beruhigt. Und die Rechnung?“
„Ich nehme nichts, stelle aber die Bedingung, daß ich Ihnen die beiden Backenzähne ziehen darf, wenn diese Tropfen nicht helfen sollten.“
„In diesem Fall helfen sie sicher. Gute Nacht, mein bester Doktor.“
„Gute Nacht, und glückliche Reise, mein Lieber.“
Als Fritz sich in dem Stübchen befand, welches er bewohnte, warf er einen Blick auf die farblose Flüssigkeit, welche sich in dem Fläschchen befand.
„Gewonnen“, sagte er. „Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Dieser gute Doktor ist doch ein braver Kerl. Der alte Kapitän aber wird dran glauben müssen. Nun lege ich mir den Reiseanzug bereit und schlafe noch ein Stündchen.“
Er tat dies, ohne zu besorgen, daß er die Zeit verschlafen werde. Er war Soldat und hatte die Gewohnheit, stets dann zu erwachen, wenn es notwendig war. Während er sich ankleidete, unterhielt er sich mit sich selbst.
„Und nun soll ich bei der Polizei Anzeige machen. Es ist vielleicht besser, ich unterlasse es. Ich muß wirklich gewärtig sein, daß man mich festhält. Vielleicht treffe ich diesen Amerikaner unterwegs. Und ist dies nicht der Fall, so gebe ich, wenn ich in Thionville auf dem Bahnhof eintreffe, einen Zettel mit der Warnung ab. Ehe sie mich da festhalten, bin ich wieder fort. Ja, so und nicht anders wird es gemacht. Der Herr Rittmeister wird es mir wohl verzeihen, wenn ich dieses Mal nicht ganz genau nach Order handle.“
Jetzt war Fritz reisefertig. Er hatte einen neuen Anzug angelegt und machte darin eine sehr gute Figur. Er begab sich nach dem Bahnhof und löste sich ein Retourbillet zweiter Klasse. Er konnte sich dies bieten. –
In Trier angekommen, hatte er so viel Zeit, daß es ihm nicht einfallen konnte, auf dem Bahnhof zu warten. Er machte also einen Rundgang durch die Stadt und begab sich dann in das erste Hotel derselben, wo er sich eine Flasche Wein geben ließ. Außer ihm befand sich nur noch ein Gast im Zimmer.
Dieser war ein Mann von entschieden fremdländischem Aussehen. Sein Teint war dunkel und sein Haar kraus. Ein stattlicher Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Der Fremde machte einen hocharistokratischen Eindruck und war ein wirklich schöner Mann. Sein Auge war feurig, und seine Bewegungen zeugten von Kraft und Gewandtheit. Seine Kleidung und Wäsche war die eines reichen Mannes, der sich zu tragen weiß. Er mochte vierzig oder wenig mehr Jahre zählen, hätte aber, um das Herz einer Dame zu erobern, getrost mit einem Jüngling in die Schranken treten können.
Er las die Zeitung, langweilte sich jedoch offenbar, denn er legte das Blatt von Zeit zu Zeit fort und warf einen Blick zum Fenster hinaus. Während einer solchen Lesepause musterte er Fritz. Dieser schien einen befriedigenden Eindruck auf ihn zu machen, denn er erhob sich, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und wendete sich dann mit der Frage an den Wachtmeister:
„Entschuldigung, Monsieur, auch Sie scheinen hier nicht geboren zu sein.“
„Nein. Ich bin hier fremd“, erwiderte Fritz sehr höflich.
„Sind Sie aus dem Süden oder dem Norden?“
„Aus dem Süden, Monsieur.“
„Weit von hier?“
„Nicht sehr.“
„Dann sind Sie zu beneiden. Das Reisen ist zuweilen eine viel größere Anstrengung für den Geist als für den Körper. Die Einförmigkeit der Fahrt, die Gleichheit des Hotellebens ist geradezu schrecklich. Da sitze ich und warte, bis der Zug nach Metz abgeht. Welche Langeweile. Was tut man dagegen?“
Seine rasche Sprache, seine ungeduldigen Bewegungen, das reiche, interessante Spiel seiner Mienen, alles dies zeigte den Südländer an.
„Sie reisen nach Metz?“ fragte Fritz.
„Nicht ganz. Ich steige in Thionville aus.“
„Dorthin fahre ich zunächst auch. Ich bin aus Thionville, obgleich ich heute weiter fahre.“
„Aus Thionville, Monsieur? Ah, erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen plaziere?“
„Gewiß. Man langweilt sich zu zweien weniger.“
„Mit welchem Zug fahren Sie?“
„Halb zwölf.“
„Ich ebenso. Ist Ihnen die Umgegend von Thionville bekannt?“
„Einigermaßen.“
„Kennen Sie den Namen Ortry?“
„Ja. Es ist ein Schloß in der Nähe der Stadt.“
„Wem gehört es?“
„Einem Baron de Sainte-Marie.“
„Wohnt dort nicht auch ein alter Herr, welcher Kapitän der Garde des ersten Kaiserreichs gewesen ist?“
„Jedenfalls meinen Sie Kapitän Richemonte?“
„Ja, diesen.“
„Er wohnt allerdings auf Schloß Ortry.“
„Ist er jetzt dort anwesend?“
„Ja. Ich habe ihn erst gestern gesehen.“
„Das ist mir lieb. Ich muß zu ihm. Sind Sie ihm vielleicht persönlich bekannt?“
„Nein. Wir stehen einander ziemlich fern.“
„Aber seine Verhältnisse kennen Sie?“
„Nur vom Hörensagen.“
„Ist er reich?“
„Darüber wage ich nicht, ein Urteil zu fällen.“
„Er soll ein großer Patriot sein?“
„Das ist wahr; vornehmlich ein Feind der Deutschen.“