„Sie hat sie eben liebgehabt.“
„Schön; sie hat also Herz besessen, sie ist eine Mutter gewesen. Eine brave Frau aber nimmt einem guten Manne seine Kinder nicht weg, zumal wenn sie eine Deutsche ist. Geht sie mit den Kindern von ihm fort, so hat sie ihre Gründe dazu und tut es sicherlich mit blutendem Herzen. Hat sie Ihnen denn nichts, gar nichts zurückgelassen?“
„Einen Brief, ein elendes, kaltes, nichtssagendes Schreiben.“
„Das haben Sie sich natürlich heilig aufgehoben?“
„Wozu? Das ist mir ganz und gar nicht eingefallen. Ich habe ihr Porträt und ihren Brief meinem Vater zum Vernichten zurückgelassen und bin ausgezogen, meine Kinder zu suchen.“
„Ohne sie zu finden.“
„Wie ich bereits sagte.“
„Verzeihung! Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?“
„Zwanzig Jahre.“
„Und als Ihre Frau Sie verließ?“
„Zweiundzwanzig.“
„Und Ihre Frau war noch jünger?“
„Zwei Jahre.“
„Ja, so etwas kann, wie es scheint, einem Südländer recht gut passieren. Er verliebt sich mit achtzehn Jahren, macht einem Mädchen Wunder was vor, heiratet mit zwanzig gegen den Willen des Vaters, verreist mit einundzwanzig auf ein Jahr, läßt die arme Frau mit zwei Kindern während dieser langen Zeit schutzlos zurück, allen Angriffen und Intrigen preisgegeben, findet sie dann verschwunden, glaubt den Schwindel, den man ihm vormacht, und schimpft nun auf Deutschland, daß es pufft! Hören Sie, Monsieur, ich bin jedenfalls ein anderer Kerl, als Sie damals waren, aber solche Dummheiten sind mir denn doch nicht eingefallen.“
„Monsieur!“ rief der Fremde abermals drohend.
„Ach was. Wollen Sie mich wirklich fressen, so wünsche ich Ihnen gesegneten Appetit. Etwas unverdaulich bin ich aber, das muß ich Ihnen bemerken. Wohin sind Sie denn gelaufen, um Ihre Kinder zu suchen?“
„Durch ganz Frankreich, durch England und Amerika.“
„Ohne allen Anhalt? Ohne den Namen des sogenannten Verführers zu kennen?“
„Wie sollte ich ihn erfahren haben?“
„Hm! Die reine Flamme, der reine Wind und das reine Wasser. Wenn das zusammenkommt, so kocht und zischt und sprudelt es über den Rand und Deckel hinweg, und wenn dann die Suppe fertig ist, so ist sie angebrannt, und man verdirbt sich den Magen. Und nachher? Was haben Sie dann angefangen?“
„Interessiert Sie das?“ fragt der Fremde, der es nicht leiden mochte, daß Fritz sein Verhalten in dieser Art und Weise beleuchtete.
„Hm, ganz und gar nicht“, antwortete dieser.
„Warum fragen Sie da?“
„Weil Sie selbst mit diesem Gespräch begonnen haben. Habe ich Sie etwa aufgefordert, mir die Geheimnisse Ihres Herzens und Lebens mitzuteilen? Sie haben das Gespräch angefangen. Sie haben mich nach allem möglichen gefragt, und nun ich aus reiner Höflichkeit an der Unterhaltung festhalte, tun Sie pikiert und beleidigt! Ist das im Süden so gebräuchlich?“
„Monsieur, sparen Sie Ihre Fragen.“
„Gut, so brauchen Sie nicht zu antworten. Gehen Sie zu Ihrer Zeitung zurück, und lassen Sie mich in Ruhe!“
„Sie werden grob?“
„Ja; das ist so meine Gewohnheit! Wenn ich mich über einen Menschen freue, so werde ich grob.“
„Gut! Brechen wir ab! Sie sind mit den Regeln des Anstandes und der Höflichkeit noch nicht bekannt.“
„Das ist Ihr Glück, denn sonst würde ich mich versucht fühlen, Ihnen diese Regeln beizubringen.“
Er wendete sich kaltblütig ab. Der Fremde aber konnte nicht zur Ruhe kommen. Er ging im Zimmer auf und ab; seine Brust arbeitete, und seine Augen sprühten Blitze. Endlich setzte er sich doch wieder zu seiner Zeitung nieder.
Fritz trank langsam seine Flasche aus, rief den Kellner, um zu zahlen und ging fort, ohne dem anderen einen Gruß zu gönnen.
Er begab sich auf den Bahnhof, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.
Einige Zeit, nachdem er es sich im Wartezimmer bequem gemacht hatte, kam auch der Südländer. Beide nahmen keine Notiz voneinander.
Das Zeichen ertönte: der Zug nahte, und die Glocke läutete zum ersten Mal. Alles eilte nach dem Perron. Fritz nahm sich Zeit. Er wußte, daß der Bedächtige und dabei Umsichtige immer am besten kommt. Der Zug fuhr vor, und die Coupés wurden geöffnet.
„Fünf Minuten Aufenthalt!“ riefen die Schaffner.
Eben wollte Fritz auf den Perron treten, als ein anderer durch die Tür geschossen kam. Es war ein kleiner, sehr dicker Kerl mit einem riesigen Kalabreserhut auf dem Kopf. Er hatte es so eilig, daß er sich gar keine Zeit nahm, Fritz zu bemerken. Darum rannte er mit aller Gewalt gegen diesen an, taumelte zurück, glitt aus, stürzte zur Erde und setzte sich dabei auf seinen goldenen Klemmer, der ihm bei der Karambolage von der Nase gerutscht war.
„Himmeldonnerwetter!“ fluchte er. „Was stehen Sie denn da, wie ein Ölgötze! Können Sie nicht Platz machen?“
„Männchen, Männchen“, antwortete der Wachtmeister lachend. „Stehen Sie auf, gehen Sie heim, und sündigen Sie hinfort nicht mehr, sonst wird Ihnen etwas noch viel Ärgeres widerfahren. Dieses Mal ist nur der Klemmer zum Teufel gegangen.“
Der Dicke blickte nieder, erhob sich einen Zoll und zog das optische Instrument unter sich hervor.
„Himmelelement!“ rief er. „Beide Gläser in Stücke! Da muß der Teufel drinnen sitzen. Sie alter, großer Urian sind an dem ganzen Unglück schuld!“
„Das ist wahr, denn wenn ich nicht dagestanden hätte, so wären Sie so gütig gewesen, an einen anderen zu rennen. Welchen Namen darf ich denn eigentlich beim heutigen Datum in mein Stammbuch schreiben?“
„Ich heiße Hieronymus Aurelius Schneffke; das ist doch klar wie Pudding! Ich bin – Herrjeses, ich soll ja einen kleinen Imbiß für die Damen bestellen. Es läutet bereits zum zweiten Mal!“
Er raffte sich, so schnell als es ging, vom Boden auf und eilte in gerader Richtung weiter, auf die nächste Tür zu. Er öffnete und rief hinein:
„Zwei kalte, deutsche Beefsteaks mit Zubehör! Aber schnell! Es hat Eile!“
„Wollen Sie das telegrafieren, mein Lieber? Wohin denn?“ so fragte eine Stimme.
Er blickte auf und sah zu seinem Schreck, daß er in das Telegrafenbüro geraten war.
„Heiliges Pech! Rechtsum kehrt!“ rief er und warf die Türe zu. „Aber wo ist denn –? Ah, hier! Da steht es: Re – re – ja ja, das muß die Restauration sein! Schon vier Minuten vergangen!“
Er riß diese andere Türe auf und befahl, indem er eintrat:
„Zwei deutsche Beefsteaks nebst Zubehör! Aber fürchterlich schnell! Es hat die höchste Eile!“
Dabei zog er sein Portemonnaie hervor, öffnete es und erkundigte sich, indem er sich gleich mit der bloßen Hand den Schweiß von der Stirn wischte:
„Was kosten beide?“
Keine Antwort.
„Was sie kosten!“
Er vernahm keine Antwort. Nun strengte er seine Äuglein, welche er nicht mit Gläsern bewaffnet hatte, weil diese zerbrochen waren, an und sah zu seinem Schreck, daß sich kein einziger Mensch in dem Raum befand. Er fuhr also wieder hinaus und versuchte, die Schrift zu enträtseln.
„Re – re – reser – reserviertes Zimmer“, las er. „Da hört doch alles und verschiedenes auf! Denke ich da, weil es mit Re anfängt, muß es Restauration heißen! Nun aber eiligst, eiligst!“
Unterdessen war Fritz auf den Perron getreten und hatte sich nach den Waggons erster und zweiter Klasse umgesehen. Er schritt auf dieselben zu. Ein Coupé stand offen; er warf einen Blick hinein und erkannte Madelon. Ja, das war sie, an der Seite einer anderen, aber verschleierten Dame. Rasch stieg er ein.