„Ihr Diener, Fräulein Köhler!“ grüßte er.
„Ihr – Herr Wachtmeister!“ rief sie. „Ist's möglich! Was tun Sie hier in Trier?“
„Fritz, Fritz“, rief da die andere, indem sie schnell den Schleier zurückwarf.
„Gnädiges Fräulein! Wie, Sie hier! Oh, das ist eine Überraschung! Aber, wie ich sehe, sind Sie nicht allein? Hier befindet sich ein fremder Handkoffer.“
„Ein kleiner Maler reist mit uns. Er will uns mit kalten Beefsteaks ergötzen.“
„Ah, der Dicke, der mit mir zusammenrannte, zu Boden stürzte und seinen Klemmer zerquetschte?“
„Ist er wieder gestürzt?“
„Ja.“
„Von Berlin aus das achte Mal! Aber, Fritz, ist Ihre Anwesenheit eine zufällige?“
„Nein. Ich habe von Mademoiselle Nanon den Befehl, Fräulein Madelon zu empfangen und – ah, da kommt noch ein Passagier! Unterwegs das weitere! Erlauben Sie mir, mich Ihnen gegenüber zu setzen, Fräulein Köhler!“
Der, welcher jetzt in das Coupé stieg, war der Fremde, welcher mit Fritz im Hotel die Unterredung gehabt hatte. Er grüßte artig und nahm Platz.
Der dicke Maler hatte während dieser Zeit endlich glücklich die Worte: ‚Wartezimmer zweiter Klasse‘ gefunden.
Eben wollte er die Tür öffnen, da läutete es zum dritten Mal, und die Maschine ließ einen gellenden Pfiff hören.
„Donner und Doria, jetzt pressiert's bedeutend!“ rief er und stürzte in das Zimmer. Er riß einen Stuhl um und segelte in größter Angst und Eile auf das Buffet zu.
„Zwei deutsche Beefsteaks mit Zubehör! Aber schnell, schnell. Es ist keine Sekunde zu verlieren!“
„Warm oder kalt?“ fragte man.
„Donnerwetter! Kalt natürlich! Was kosten sie?“
„Zwölf Groschen beide.“
„Hier!“
Er warf das Geld auf den Tisch.
„Das langt nicht, Verehrtester!“
„Nicht? Wieso?“
„Das ist kein Achtgroschenstück, sondern ein Dreier.“
„Der Kuckuck hole alle Dreier und Achtgroschenstücke!“
Er verbesserte den Fehler und griff nach den Tellern.
„Adieu!“ rief er und sprang davon.
„Halt! Sollen die Beefsteks ins Coupé?“
„Ja!“ brüllte er zurück.
Seine Stimme klang vor Angst und Wut wie diejenige eines angeschossenen Löwen.
„So lassen Sie das Porzellan und Messer und Gabel hier, mein Herr!“
„Habe keine Zeit!“
Damit war er zur Tür hinaus. Ein Kellner lief ihm nach. Sämtliche Coupés waren bereits geschlossen, und der Zug setzte sich eben in Bewegung. Die beiden Damen hatten dem Schaffner gemeldet, daß ein Passagier fehle; er hatte auch so lange wie möglich gewartet, aber nun war es nicht länger gegangen. Den Mädchen tat der eigentümliche, aber doch herzensgute Reisegefährte leid. Sie standen am Fenster. Da kam er aus der Tür gesprungen, mit beiden Beinen, und in jeder Hand einen Teller.
„Halt! Halt! Die Beefsteaks!“ brüllte er mit Riesenstimme. „Ich muß auch noch mit!“
Alle Köpfe fuhren neugierig an die Fenster.
„Zurück!“ rief der Inspektor. „Es ist zu spät!“
„Unsinn! Ich habe bezahlt!“
Er stürzte vorwärts.
„Die Teller her, die Teller!“ rief es hinter ihm.
Der Kellner war es, der ihn einzuholen trachtete. Herr Hieronymus Aurelius Schneffke blickte sich wütend um; das war die Ursache, daß ihn sein Verhängnis abermals ereilte. Der pflichteifrige Schaffner hatte nämlich, als der Maler nicht erschien und es die höchste Zeit gewesen war, den Koffer des Säumenden aus dem Coupé gerissen und ihn auf den Perron gestellt. Gerade als Hieronymus angesichts seiner beiden Damen den bereits sich bewegenden Wagen erreichte, blickte er sich nach dem Schaffner um; er sah den Koffer nicht und stolperte über denselben weg. Hut, Teller, Messer und Gabeln, Senfbüchse und Beefsteaks flogen fort; er selbst aber kollerte eine ganze Strecke auf dem Boden hin. Als er endlich fest auf dem Bauch lag, kam ihm die oft bewährte Geistesgegenwart. Er richtete sich halb empor und rief, indem er den Blick auf das offene Fenster seines verlorenen Paradieses richtete:
„Meine verehrtesten Damen, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich Ihrem geneigten –“
Die übrigen Worte konnte man nicht hören. Sie verhallten im Kreischen der Räder und im Gelächter der zahlreichen Zeugen seiner spaßhaften Niederlage.
„Zum neunten Mal!“ sagte Emma, indem sie wieder Platz nahm.
Ihr gegenüber saß der Fremde, während Fritz bei Madelon Platz genommen hatte. Diese letztere konnte sich noch immer nicht das Wunder seiner Anwesenheit erklären, während er nicht wußte, wie er es sich zu deuten habe, daß das Fräulein von Königsau mitgekommen war.
„Sie sagen, daß Nanon Sie geschickt habe?“ fragte Madelon in gedämpftem Ton.
„Ja, so ist es, Fräulein“, antwortete er.
„Kennen Sie sie denn?“
„Ja, sehr gut.“
„Sind Sie etwa in Ortry gewesen?“
„Vorübergegangen bin ich. Werden Sie hingehen?“
„Auf der Rückreise, ja.“
„Dann bin ich gezwungen, Ihnen ein Geheimnis mitzuteilen. Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, es zu verschweigen?“
„Gern!“
„Herr Rittmeister von Königsau ist dort.“
„Ich weiß es bereits.“
„Wirklich? Wer hat es Ihnen gesagt?“
„Fräulein Emma.“
„Wissen Sie auch die Gründe seiner Anwesenheit dort?“
„So ziemlich.“
„Um Gottes willen!“
„Haben Sie keine Sorge! Ich halte es mit Deutschland, lieber Herr Wachtmeister!“
„Pst! Ich bin nicht Wachtmeister, sondern Pflanzensammler! Die Hauptsache ist, daß Mademoiselle Nanon keine Ahnung haben darf, wer ich bin, und wer der Herr Rittmeister ist!“
„Darf sie auch nicht wissen, daß wir uns kennen?“
„Auf keinen Fall!“
„Ich habe sie nach dem Bahnhof von Thionville bestellt.“
„Sie wird Sie dort erwarten.“
„Und gleich mitfahren?“
„Ja. Ich werde das Vergnügen haben, Sie zu begleiten.“
„Ah! Schön! Aber wie kommt das?“
„Mademoiselle Nanon war so gütig, sich meinem Schutze anzuvertrauen.“
„Das sind Rätsel, auf deren Lösung ich gespannt bin.“
„Ich hoffe, daß diese Lösung nicht übermäßig lange auf sich warten lassen wird. Aber bitte sagen Sie mir, was die Gegenwart des gnädigen Fräuleins zu bedeuten hat.“
„Das ist ein Rätsel für Sie, auf dessen Lösung Sie ebenso warten müssen wie wir.“
„Schön! Ich füge mich. Aber will sie nach Ortry?“
„Ich glaube.“
„Sapperment! Das ist gefährlich. Weiß der Herr Rittmeister, daß sie kommt?“
„Kein Wort!“
„So ist das – verzeihen Sie mir – eine Unvorsichtigkeit. Ah, dieser Kerl macht sich an sie?“
„Wer ist er?“
„Ein Südländer, der die Deutschen haßt, weil seine Frau eine Deutsche war und ihm mit zwei Kindern davongelaufen ist.“
„O weh! Der Arme!“
Sie warf dabei einen mitleidigen Blick zu dem hinüber, von welchem die Rede war, was dem guten Fritz nicht gar sehr gefallen wollte.
Der Fremde hatte bisher Emma gemustert. Ihre Erscheinung machte einen augenblicklichen, unmittelbaren und tiefen Eindruck auf ihn. Sie war schön. Sie glich ganz der Figur eines Germaniabildes. Sie saß da so rein, so mild und doch so selbstbewußt und kräftig. Er konnte das Auge nicht von ihr wenden.
Und ihr erging es mit ihm ebenso. Dieses Eigenartige in seiner Erscheinung frappierte sie. Er hatte etwas Leidendes und doch auch wieder Trotziges an sich und war dabei ein selten schöner Mann. Auf sein Alter hin taxierte sie ihn gar nicht. Ein Mann fragt sich beim Anblick einer Dame fast stets, wie alt ist sie. Eine Dame tut dies einem Herrn gegenüber nicht. Wenigstens nicht sogleich. Sie läßt das Wesen und nicht das Alter auf sich einwirken. Ein junger Backfisch kann sich unsterblich in einen silberhaarigen Mann verlieben.