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So trafen und begegneten sich ihre Blicke, bis Emma sich an Madelon mit der Frage wandte:

„Wie heißt die nächste Station?“

„Wellen, mein Fräulein“, antwortete schnell der Fremde. „Über Karthaus sind wir bereits hinweg.“

„Ich danke Ihnen Monsieur!“

Sie verneigte sich bei diesen Worten leicht. Er zog sogleich sein Täschchen und reichte ihr eine Visitenkarte. Sie las den Namen: „Benoit Deep-hill, New Orleans.“

Auch sie griff in ihr Täschchen. Aber durfte sie ihren wirklichen Namen merken lassen? Es war leicht möglich, daß dieser Herr nach Thionville ging oder gar mit Ortry in Beziehung stand. Sie hatte noch die Karte einer Freundin, einer Engländerin, bei sich und reichte ihm diese hin. Er las: „Miß Harriet de Lissa, London.“

„Ah, Sie sind Engländerin, Mademoiselle?“ fragte er, sichtlich erfreut über diese Entdeckung.

„Ja“, antwortete sie, indem sie leicht errötete.

„Das weckt sehr liebe Erinnerungen in mir. Sooft ich in London war, habe ich mich der wahrhaft großartigsten Gastfreundschaft Ihrer Landsleute zu erfreuen gehabt. Das tut wohl, wenn man ein Fremdling ist allüberall.“

Das klang so traurig, und sein Auge nahm dabei einen so trüben Ausdruck an. Sie fühlte, daß dieser Mann sehr viel gelitten haben müsse.

„Sollte Ihnen die Heimat verlorengegangen sein, Monsieur?“ fragte sie.

„Leider! Die Heimat und die Familie.“

„Dann beklage ich Sie! Wer dies beides missen muß, dem ist das Edelste und Beste versagt. Doch kann man Verlorenes ja wiederfinden und Eingestürztes von neuem errichten!“

„Wer baut gern auf Trümmern! Ein Glück ist da nicht mehr zu erwarten.“

Er wendete sich halb ab und richtete den Blick auf das Fenster. So konnte sie sein Profil bewundern. Was war es doch, das an diesem Mann einen solchen Eindruck auf sie machte? Sie bemerkte, daß auch Madelon den Blick kaum von ihm wandte.

Sie spielte mit seiner Karte; dabei entglitt dieselbe ihrer Hand, ohne daß er es bemerkte. Fritz sah es und bückte sich rasch, um sie diensteifrig aufzuheben. Dabei fiel sein Auge auf den Namen. Er machte eine Bewegung der Verwunderung und gab die Karte dann zurück. Der Fremde war nun doch aufmerksam geworden; er bemerkte den Blick, welchen Fritz auf ihn warf, und zuckte, aber kaum bemerkbar, die Achsel. Das konnte der ehrliche Wachtmeister nicht auf sich sitzen lassen.

„Entschuldigung!“ sagte er. „Ist das Ihre Karte, Monsieur?“

„Wessen sonst?“ antwortete der Gefragte rauh.

„Sie heißen wirklich Deep-hill?“

„Ja.“

„Sie kommen aus New Orleans?“

„Ja. Aber was berechtigt Sie zu diesen Fragen, nachdem wir uns bereits zur Übergenüge ausgesprochen haben?“

„Sie werden mir schon erlauben müssen, mich für Sie zu interessieren!“

„Ich kann Sie nicht hindern, aber verbieten kann ich es Ihnen, mir dieses Interesse zu zeigen.“

„Verbieten können Sie es; ich werde mich aber nach diesem Wunsch ganz und gar nicht richten.“

„Monsieur!“

„Pah! Geraten wir nicht wieder aneinander! Ich habe Sie gesucht, und jedenfalls ist es ein Glück für Sie, daß ich Sie gefunden habe.“

Der Amerikaner konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

„Ein Glück für mich, daß ich Sie treffe?“

„Allerdings.“

„Das ist ja interessant! Sie haben meine Karte gelesen. Darf ich wissen, wer Sie sind, Monsieur!“

„Eine Karte kann ich Ihnen nicht geben. Mein Stand rechnet solche Dinge zu den Luxussachen; aber sagen kann ich Ihnen, daß ich als Pflanzensammler bei Doktor Bertrand in Thionville engagiert bin.“

Das Erstaunen des Fremden verdoppelte sich. Sein südliches Wesen, welches gewohnt war, sich rücksichtslos ganz so zu geben, wie es war, konnte auch hier nicht widerstehen.

„Glückliches Land, wo die Kräutersammler erster und zweiter Klasse fahren können und dürfen“, sagte er.

„Das gebe ich zu. In anderen Ländern fahren flüchtige Bankdirektoren und ruinierte Ölprinzen erster Klasse, Monsieur. Übrigens ist zwischen einem Pflanzensammler und einem Dollarsammler kein gar so großer Unterschied. Es muß eben jeder Mensch das Recht haben, seine eigenen Liebhabereien denjenigen anderer Leute vorzuziehen. Meine Passion ist nun einmal das Pflanzensuchen, und das ist ein großes Glück für Sie.“

„Aber Sie glauben wohl, daß ich das nicht begreife?“

„Ich glaube es und fordere daraus für mich das Recht und die Pflicht, mich Ihnen zu erklären. Nicht wahr, Sie werden in Ortry von dem Kapitän Richemonte erwartet, und Sie kommen im Interesse Frankreichs?“

„Monsieur, eine solche Frage darf ich Ihnen nicht gestatten, zumal sie kein guter Franzose zu sein scheinen.“

„Ich sympathisiere mit allen braven Franzosen, mein Herr! Sie tragen Millionen bei sich?“

Der Amerikaner fuhr überrascht zurück.

„Wer sagt das?“ fragte er.

„Ich weiß es. Wollen Sie es bestreiten?“

„Ich kann es zugeben und dennoch bestreiten. Warum beschäftigen Sie sich mit dieser Tatsache?“

„Weil dieselbe für Sie verhängnisvoll werden kann; denn sie kann Ihnen das Leben kosten.“

„Herr, Sie scherzen!“

„Ich spreche im vollsten Ernst.“

„Wie kommen Sie zu Ihrer Behauptung?“

„Ich weiß ganz genau, daß man Sie töten will, um Ihnen Ihr Geld abzunehmen.“

„Ah! Das sollte einem doch schwer werden.“

„Auch zweien oder dreien?“

„Ich bin bewaffnet!“

„Was hilft Ihnen ein Revolver gegen die List und bei einem plötzlichen, unerwarteten Überfall?“

„Das ist wahr. Aber wer ist es, der mich töten will?“

„Vielleicht könnte ich Ihnen antworten, aber ich ziehe es vor, Tatsachen sprechen zu lassen. Ich glaube nicht, daß Sie Ortry lebendig erreichen würden, wenn ich Sie nicht getroffen hätte. Ich bin Ihnen ja entgegengereist, um Sie zu treffen und zu warnen.“

Die beiden Damen wußten nicht, was sie dazu sagen sollten. Sie schwiegen. Der Amerikaner wurde bedenklicher und sagte:

„Aber wie haben Sie von dem Anschlag erfahren?“

„Ich befand mich gestern abend im Wald. Ich hatte mich verspätet und belauschte zufällig das Gespräch zweier Männer, welche in meine Nähe kamen. Sie sprachen davon, daß ein Master Deep-hill aus New Orleans heute mit dem Mittagszug in Thionville eintreffen werde und Millionen bei sich trage. Der Raub sollte geteilt werden. Sie sprachen ferner von einem Dritten, der bereits vor ihnen an Ort und Stelle sein sollte.“

„An welcher Stelle?“

„Das weiß ich leider nicht. Das Gespräch bewegte sich meist in Ausdrücken, welche nicht vermuten ließen, daß der Plan bereits bis ins einzelne vorher besprochen worden war.“

„Haben Sie nicht sofort die Polizei benachrichtigt?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Konnte sie mehr tun, als das, was ich getan habe, nämlich Ihnen entgegenzufahren, um Sie zu warnen?“

„Aber man konnte die Kerls ergreifen.“

„Das können wir jetzt wohl auch noch.“

„Mir ist es ein Rätsel, wie diese Strolche erfahren haben können, daß ich mit Millionen komme. Nur zwei Personen haben davon gewußt.“

„Ich kenne diese beiden.“

„Wirklich? Wer sind sie?“

„Der alte Kapitän und Graf Rallion.“

„Monsieur, wenn Sie das wissen, so sind Sie ganz sicher einer der Unserigen!“

„Darüber habe ich mich nicht zu äußern“, antwortete Fritz zurückhaltend.

„Und sind vielleicht noch mehr eingeweiht, als der Kapitän selbst.“

„Ich habe keinen Grund, Ihnen zu widersprechen oder Ihre Vermutung zu bestätigen; aber ich nehme an, daß Sie nicht vergessen werden, daß ich meine Angelegenheit zu der Ihrigen gemacht habe.“