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Sie erhob sich, um fortzueilen, er aber hielt sie mit sanfter Gewalt zurück und sagte:

„Warten Sie, Mademoiselle. Man hat bereits nach Hilfe geschickt. Es wird Militär kommen, auch Ärzte werden gesucht. Glücklicherweise ist eine geheizte Maschine vorhanden. In einigen Minuten werden einige Wagen nach der Unglücksstätte fahren.“

„Aber wird man mich mitnehmen?“

„Eigentlich würde man dies wohl kaum tun; aber ich werde dafür sorgen, daß Sie einen Platz finden.“

Der Mann war Bahnhofsbeamter und hielt Wort. Er selbst brachte Nanon in ein Coupé. So kam es, daß sie mit dem Militär zugleich an dem Schreckensort ankam. Als sie die dortige Verwüstung erblickte, brach sie in die Knie, und es dauerte einige Zeit, ehe sie wieder so viel Kraft gewann, die Böschung herunterzuklettern. Sie hätte laut jammern mögen; da aber erblickte sie einen, den sie hier nicht erwartet hätte, zumal sie auf dem Bahnhof vergeblich nach ihm gesucht hatte, obgleich er von ihr dorthin bestellt worden war – Fritz Schneeberg, den Pflanzensammler.

Das gab ihr ihre ganze Beweglichkeit zurück. Im Nu stand sie bei ihm. Er kniete mit zwei Männern bei einem Verwundeten an der Erde. Sie ergriff ihn beim Arme und sagte:

„Monsieur Schneeberg! Sie hier? Gott sei Dank! Wo ist meine Schwester?“

Er erhob sich mit vor Freude glänzendem Gesicht, deutete den Damm entlang und antwortete:

„Keine Sorge, Mademoiselle Nanon! Dort kommt sie eben!“

Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus und eilte mit weit geöffneten Armen der Geretteten entgegen, welche mit Emma soeben sich näherte.

„Madelon, Madelon! Meine Schwester! Du bist gerettet!“

Die Angerufene warf einen scharfen Blick auf die so eilig Herbeifliegende, breitete ebenso wie diese ihre Arme aus und jauchzte:

„Nanon! Du hier! Gott, welch ein Wiedersehen!“

Sie lagen sich in den Armen; sie herzten und küßten sich; sie streichelten einander liebkosend die Wangen und schluchzten dabei vor Freude und Glück.

„Ich glaubte dich tot und verloren“, sagte Nanon.

„Gott sei Dank! Ich bin gerettet.“

„Ohne mit zerschellt zu werden! Welch ein Wunder!“

„Ja, es war ein Wunder, welches nur die Kühnheit vollbringen konnte.“

„Die Kühnheit? So ist es nicht ein Zufall, daß ich dich so unversehrt vor mir sehe?“

„Nein. Der Zug war noch in Fahrt, und die Maschine gab das Rotsignal, da ergriff mich einer der Passagiere, riß mich aus dem Wagen und sprang mit mir vom Trittbrett herab.“

„Welch eine Verwegenheit! Und welch eine Geistesgegenwart! Ist dieser Held ebenso unverletzt wie du?“

„Ja, und ich danke Gott und allen Heiligen dafür.“

„Ich ebenso. Vor allen Dingen aber gehört auch dem mutigen Mann unser Dank. Wo ist er?“

Über Madelons Gesicht breitete sich ein fröhliches, erwartungsvolles Lächeln, als sie, vorwärts deutend, antwortete:

„Der hohe, kräftige Herr, welcher dort bei den Verwundeten beschäftigt ist.“

Nanon blickte nach der bezeichneten Stelle und fragte:

„Der? Wirklich der?“

„Ja, freilich.“

Das schlug sie in höchster Überraschung und Freude die Händchen zusammen und rief:

„Das ist ja Monsieur Schneeberg, mein Freund und Bekannter.“

„Allerdings, liebe Nanon.“

„Und der hat dich gerettet, der? Das ist ja gar nicht möglich.“

„Warum sollte es nicht möglich sein?“

„War er denn im Zug? War er mit in deinem Coupé?“

„Ja. Er stieg in Trier zu uns ein.“

„Das begreife ich nicht. Ich hatte ihn doch nach dem Bahnhof in Thionville bestellt. Ich muß hin zu ihm, sofort, um ihm zu danken.“

„Ja, tue das; aber laß dir vorher diese Dame vorstellen. Meine Schwester Nanon – Miß de Lissa aus London, welche auf ganz dieselbe Weise gerettet worden ist wie ich.“

Fragen und Antworten waren einander so schnell gefolgt, daß vom ersten bis zum letzten Wort nur Sekunden vergangen waren. Erst jetzt nahm Nanon Notiz von Emma von Königsau. Sie verbeugte sich vor ihr und fragte:

„Auch Sie sind durch Schneeberg gerettet worden, Miß?“

„Wenn auch nicht direkt, aber doch mittelbar“, antwortete die Gefragte. „Wäre er nicht in unser Coupé gestiegen, so lägen auch wir beide zerschmettert unter den Wagen.“

„Der brave, gute Mensch! Ich muß wirklich sogleich hin zu ihm.“

Sie eilte fort, und die beiden anderen folgten ihr.

Fritz war eben beschäftigt, bei dem Verband eines Verunglückten mit Hand anzulegen, als Nanon seinen Arm ergriff.

„Monsieur, Sie sind es gewesen, der Madelon gerettet hat?“

Er nickte ihr freundlich zu und antwortete:

„Es war kein Verdienst von mir, sondern der reine Zufall, Mademoiselle. Sprechen wir später davon. Jetzt müssen wir diesen armen, beklagenswerten Leuten unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden.“

„Ja, ja, Sie haben recht. Jetzt ist der Schreck vorüber, und ich kann helfen.“

Die drei Mädchen wendeten sich an die beiden Ärzte, welche mit dem Zug gekommen waren, und baten sich deren Befehle aus.

Die beiden Franctireurs befanden sich noch bei Fritz, oder vielmehr, dieser befand sich noch bei ihnen; er war ihnen nicht von der Seite gewichen. Jetzt hatten sie den Verwundeten ergriffen, um ihn nach dem Coupé zu tragen. Fritz wollte jetzt mit angreifen, allein der eine sagte abwehrend:

„Das ist nicht nötig. Wir bringen ihn allein fort.“

„Den steilen Damm hinauf?“

„Ja, wir sind keine Schwächlinge.“

„Aber nicht in das Coupé hinein. Dazu gehören drei.“

Bei diesen Worten faßte er mit an. Es fiel ihm gar nicht ein, zurückzubleiben, und die beiden anderen konnten nichts dagegen tun, obgleich sie ihn innerlich verwünschten. Aber sie verständigten sich gegenseitig durch einen kurzen Blick, daß jetzt die geeignetste oder wohl gar die höchste Zeit zu ihrer Entfernung gekommen sei.

Sie glaubten ganz und gar nicht, daß Fritz alles wisse. Er aber hatte auch diesen Blick aufgefangen und fühlte sich Manns genug, ihre Flucht zu vereiteln. Als sie langsam mit dem Verwundeten die Böschung emporstiegen, trat der Oberschaffner, der erst jetzt Zeit dazu fand, zu dem Offizier.

„Kapitän“, sagte er, „die beiden Männer dort sind es, welche ich meine.“

Dabei deutete er nach den dreien.

„Ah! Der hohe, starke Mensch nicht, der mit bei ihnen ist?“

„Nein. Ihm vielmehr haben wir ihre Entdeckung zu verdanken. Er hält sich zu ihnen, um sie zu beobachten.“

„Schön! Sie werden aber Gelegenheit zum Entkommen suchen. Ich werde das verhindern.“

Er winkte zweien seiner Untergebenen und gab ihnen einen leisen Befehl. Sofort machten sie ihre Gewehre schußfertig.

„Aber nur dann, wenn sie auf meinen Zuruf nicht achten“, fügte er hinzu. „Sucht dann, sie nur zu blessieren, nicht aber zu töten. Wir müssen sie lebendig haben.“

Die drei waren beim Coupé angekommen. Einer der beiden Männer sagte zu Fritz:

„Es kann nur einer voran. Sie sind der stärkste von uns, wie es scheint. Steigen Sie ein, indem Sie den Verwundeten bei den Schultern nehmen.“

„Hm!“ dachte Fritz. „Wartet, ihr Burschen. Mich betrügt ihr schon lange nicht. Ich will euch zum Spaß den Willen tun; das wird eine Falle, in die ihr selbst springt.“

Er faßte den Blessierten an und stieg langsam und vorsichtig, um ihm keine Schmerzen zu verursachen, rückwärts hinauf in das Coupé. Die beiden anderen hoben und schoben nach. Aber als der Verunglückte nun noch nicht ganz auf der Bank lag, flüsterte der eine:

„Jetzt oder nie. Vorwärts!“

Er wendete sich um und schritt langsam und sich ganz unbefangen stellend, den Waggons entlang, um dann um den letzten derselben herumzubiegen und auf die andere, unbewachte Seite zu kommen. Der Offizier aber bemerkte es: