„Man müßte ihm Veranlassung dazu geben!“
„Das wäre zwar eine Möglichkeit; aber wir sind gefesselt. Wie wollen wir das Coupéfenster niederlassen, um die Tür aufzubekommen!“
„Das ist wahr. Und selbst wenn wir hinaus könnten, zu entkommen wäre doch nicht möglich, da wir mit diesen gefesselten Händen nicht rasch genug laufen könnten.“
„Hölle! Hätten wir ein Messer!“
„Das ist's! Das meinige ist mir entfallen. Laß uns nachdenken! Jetzt ist die einzige, die letzte Zeit zur Rettung!“
„Du! Ah, da fällt mir etwas ein!“
„Wirklich! Was?“
„Denkst du, daß uns der Alte im Stich lassen wird?“
„Der Kapitän? Meinst du ihn?“
„Ja, natürlich!“
„Hm! Eigentlich sollte man denken, daß ihm an unserer Befreiung ebensoviel liegen sollte als uns selbst.“
„Freilich! Aber dieser Kerl ist unberechenbar.“
„Er muß sich doch sagen, daß wir ihn verraten werden, wenn er uns aufgibt!“
„Es fragt sich, ob er sich etwas daraus macht. Er hat zu viele Mittel in den Händen, sich rauszureden!“
„Still!“ gebot jetzt der Posten, der nun doch bemerkt haben mußte, daß die beiden miteinander sprachen.
„Wir reden ja nicht!“ erhielt er grob zur Antwort.
„Ich habe es gesehen und gehört. Sprecht ihr noch einmal, so erhaltet ihr einen Knebel in den Mund!“
Sie warfen ihm wuterfüllte Blicke zu, mußten aber seinem Befehl Gehorsam leisten.
VIERTES KAPITEL
Der verschmähte Liebhaber
Die Frau Baronin de Sainte-Marie hatte sich gestern sehr geärgert. Sie hatte sich darauf gefreut gehabt, daß ihre Stieftochter sich dem Willen des alten Kapitäns werde fügen müssen. Hierin war sie getäuscht worden, und nun hatte sie Migräne. Sie hatte deshalb einen Boten nach Thionville zu Doktor Bertrand gesandt, um diesen zu sich zu rufen.
Bertrand, als Hausarzt auf Schloß Ortry, hatte diesem Ruf Folge geleistet. Er befand sich noch da, als ein Mann auf schäumendem Pferd in den Hof sprengte und nach dem Doktor fragte; zu ihm geführt, berichtete er:
„Herr Doktor, Sie sollen sofort kommen. Es werden alle Ärzte gebraucht. Es ist ein Zug entgleist.“
Man hatte sich gerade beim zweiten Frühstück befunden; darum waren alle zugegen außer der Baronin, welche sich ja angegriffen fühlte. Jedermann erschrak. Auch der alte Kapitän erhob den Kopf und blickte den Boten mit gespannter Erwartung an.
„Ein Zug entgleist?“ fragte der Arzt. „Wo?“
„Kurz vor der Stadt hinter Königsmachern. Es hat jemand Steine auf die Schienen gelegt.“
„Herrgott! Welch ein Verbrechen! Ist das Unglück groß?“
„Es sollen nur wenige Menschen davongekommen sein.“
„So muß ich fort, augenblicklich! Herr Kapitän, Sie werden entschuldigen, daß ich mich so sans façon entferne.“
In den Augen des Alten glühte ein eigentümliches Flackern. Man wußte bereits, daß das Unglück ein beabsichtigtes sei. Hatten diese Kerls ihre Sache nicht klug gemacht? Dann stand sehr, sehr viel auf dem Spiel. Er mußte sich selbst überzeugen, ob der Anschlag geglückt sei oder nicht.
„Gehen Sie immerhin!“ antwortete er. „Sie bedürfen keiner Entschuldigung. Ihr Pferd steht noch im Stall?“
„Ja“, antwortete der Gefragte, sich nach der Tür wendend.
„So können Sie noch einen Augenblick verzeihen. Ich reite mit. Bei einem solchen Fall können nicht Helfer genug sein. Wir reiten gleich querfeldein, nicht nach der Stadt, sondern auf die Unglücksstätte zu!“
Er öffnete das Fenster und rief den Befehl hinab, sein Pferd schleunigst zu satteln.
Marion de Sainte-Marie war tödlich erschrocken.
„Mein Gott!“ sagte sie jetzt. „Das ist ja der Zug, mit welchem Madelon kommt!“
„Madelon? Wer ist das?“ fragte der Alte scharf.
„Nanons Schwester.“
„Ah! Die Germanisierte? Die deutsche Gouvernante? Um sie ist es nicht schade, wenn sie verunglückt ist!“
Da stand Marion vom Stuhl auf und antwortete:
„So sollte nur ein Teufel sprechen!“
„Schweig, Mädchen“, drohte er.
Sie aber schob ihren Stuhl kräftig beiseite und entgegnete:
„Hier kann ich nicht schweigen! Madelon ist in Gefahr. Auch ich eile nach der Bahn. Man wird mir satteln.“
„Du bleibst!“ gebot er.
„Ich reite!“ beharrte sie in festem Ton. „Du weißt, was ich dir gestern gesagt habe! Herr Doktor, begleiten Sie mich?“
Müller verbeugte sich und antwortete:
„Ich stehe zur Verfügung, gnädiges Fräulein!“
Da wendete der Alte sich ihm drohend zu:
„Wenn ich es Ihnen nun verbiete?“
„Wollen Sie die gnädige Komtesse ohne Begleitung nach einem solchen Ort gehen lassen, Herr Kapitän?“
Der Alte griff an den Schnurrbart, zupfte heftig an den Spitzen desselben und antwortete dann:
„Gut! Es mag sein! Läßt sie sich nicht halten, so ist es allerdings besser, Sie reiten mit. Aber in Zukunft werde ich mir besseren Gehorsam zu verschaffen wissen. Kommen Sie, Doktor!“
Zwei Minuten später ritten sie im Galopp davon. Sie schlugen einen Feldweg ein, der sie viel schneller zur Bahn brachte, als die Straße, welcher sie durch die ganze Stadt hätten folgen müssen. Sie erreichten den Damm an der Unglücksstätte, sprangen von den Pferden, ließen diese unten stehen und stiegen hinauf und drüben wieder hinab, wo sie empfangen wurden, der alte Kapitän von dem Offizier, der ihn natürlich kannte, und der Doktor von seinen beiden Kollegen, welche sich freuten, an ihm eine so bewährte und höchst notwendige Hilfe zu finden.
Bertrand hatte sein Besteck stets bei sich, so auch jetzt. Er griff sofort mit zu.
Vor einem Mann, dem das Bein schauderhaft zerquetscht war, kniete die Gestalt eines schönen Mädchens. Er trat hinzu und ließ sich neben ihr nieder.
„Der Ärmste“, sagte sie. „Er ist vor Schmerz besinnungslos.“
„Wohl ihm!“ antwortete Bertrand. „Lassen wir ihn! Hier können wir ihm nicht helfen. Das Bein muß amputiert werden.“
Er erhob sich wieder, und sie tat dasselbe. Jetzt erst konnte er ihr voll in das Gesicht blicken.
„Ist es möglich!“ sagte er im Ton höchster Überraschung. „Das kann keine bloße Ähnlichkeit sein. Sie sind –“
Er stockte, blickte sich vorsichtig um, ob seine Worte gehört werden könnten, und fuhr dann leise fort:
„Sie sind Fräulein von Königsau?“
„Ja“, nickte sie lächelnd. „Und Sie sind Herr Doktor Bertrand, der im unglücklichen Jahr Sechsundsechzig –“
„Von Ihrem Herrn Bruder gerettet wurde und dann auch die Ehre hatte, Sie zu sehen. Aber, um Gottes willen, dürfen Sie wagen, nach hier zu kommen?“
„Ich muß es wagen und habe, offen gestanden, dabei auch ein wenig auf Sie gerechnet.“
„Ich stelle mich Ihnen ganz und gar zur Verfügung!“
„Ich wollte zu Ihnen nach Thionville, erlitt aber hier leider diesen entsetzlichen Unfall, dessen Folgen –“
„Wie?“ unterbrach er sie erschrocken. „Sie waren mit in dem verunglückten Zug?“
„Allerdings, Herr Doktor. Aber ziehen wir meine persönlichen Angelegenheiten nicht diesen Unglücklichen vor, welche unserer Hilfe so sehr bedürfen! Darf ich um eine kurze Gastfreundschaft in ihrem Haus bitten?“
„Oh, gewiß, mein gnädiges Fräulein.“
„So wissen Sie zunächst, daß ich eine Engländerin aus London bin und Harriet de Lissa heiße.“
„Weiß Ihr Herr Bruder, daß Sie kommen?“
„Kein Wort.“
„Und sein Diener, mein Kräutersammler, den ich dort sehe?“
„Mit ihm habe ich mich bereits verständigt. Nun aber zunächst zu unseren Hilfsbedürftigen.“
Nach diesen kurzen Unterhaltungsworten, welche allerdings höchst notwendig gewesen waren, nahmen sie ihre erstere Beschäftigung wieder auf.