„Her, deine Hände mit dem Stricke.“
„Hier! So! Und nun die deinigen.“
Abermals ein Schnitt, und die beiden konnten ihre Arme und Hände gebrauchen.
„Ist jemand hüben auf dieser Seite?“
Der, welcher an der jenseitigen Tür saß, öffnete ein wenig und blickte hinaus. Er sah niemanden.
„Kein Mensch“, antwortete er. „Komm! Schnell!“
Er sprang hinaus, und der andere folgte ihm. Dieser letztere schlug, da die Wagen jetzt wieder ins Stehen kamen, wobei die Räder und Bremsen kreischten, die Tür zu, ohne daß dies gehört wurde. Dann flohen beide den Bahndamm hinab und unten zwischen die Büsche hinein.
Gerade in diesem Augenblick referierte der Offizier dem Alten.
„Aus der Gegend von Verdun wollen sie sein. Glauben Sie das?“
„Möglich ist es. Aber bitte, fragen Sie doch weiter, Herr Kamerad! Die Kerls scheinen einmal im Sprechen zu sein.“
Dabei zuckten seine Schnurrbartspitzen eigentümlich auf und nieder. Der andere antwortete:
„Sie haben recht. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Ich werde dem Untersuchungsrichter vorarbeiten.“
Er stieg wieder auf das Trittbrett. Zwischen jetzt und vorhin waren kaum einige Sekunden vergangen.
„Hört, ihr Halunken, ihr sollt mir – Heiliges –!“
Er hielt inne, und man konnte sogar von außen bemerken, daß er sehr bestürzt war.
„Nun?“ fragte der Alte. „Was gibt es?“
„Fort“, antwortete der Gefragte, noch immer unbeweglich in das Innere des Coupés starrend.
„Fort? Wer denn?“
„Die beiden Kerls!“
„Unmöglich!“
Erst jetzt drehte der Offizier sich um. Sein Gesicht war kreideweiß geworden. Er blickte den Alten mit weit geöffneten Augen an und fragte:
„Können Sie das begreifen?“
„Daß sie fort sind? Nein. Das kann ich gar nicht glauben!“
„Aber sie sind doch fort!“
„Zeigen Sie.“
Der Alte schob ihn fort, stellte sich hinauf und blickte in das Coupé.
„Unmöglich!“ rief er. „Ich glaube, die Kerls haben sich unter die Sitze verkrochen.“
„Unter die Sitze?“ fragte der andere, dem bei diesen hoffnungsreichen Worten das Blut in die Wangen zurückkehrte.
„Jedenfalls“, antwortete Richemonte.
Er gab sich Mühe, die Szene zu verlängern, damit die beiden Flüchtlinge Zeit zu einem genügenden Vorsprung finden möchten.
„Weshalb aber?“
„Das ist doch leicht einzusehen: damit wir glauben sollen, daß sie fort sind. Während wir nun auf der einen Seite suchen, würden sie auf der anderen ausreißen.“
„Ah! So dumm sind wir nicht! Holen wir sie unter den Sitzen hervor!“
„Ja, machen wir auf.“
Sie öffneten die Tür, und der Kommandant blickte unter die Bänke. Als er den Kopf wieder hervorzog, war sein Gesicht abermals blaß geworden.
„Vergebens! Sie sind fort“, sagte er.
„Donnerwetter! Sie können sich doch nicht unsichtbar machen!“
„Das scheinen sie allerdings gekonnt zu haben.“
„Ist denn das Fenster drüben offen? Doch nicht?“
„Nein; es ist zu.“
„Oder wohl gar die Tür?“
Er stieg in das Coupé und untersuchte die Tür.
„Sie ist noch geradeso verschlossen wie vorher“, sagte er.
„Daraus werde der Teufel klug. Oder können Sie sie da drüben vielleicht laufen sehen?“
Der andere ließ das Fenster herab, blickte hinaus und antwortete:
„Nein. Es ist kein Mensch zu sehen.“
„So stehen wir vor einem blauen Wunder. Wer kann es erklären?“
„Ich nicht, Herr Kapitän“, antwortete der andere, indem er aus dem leeren Coupé sprang.
„Na, ich auch nicht. Geht mich überhaupt gar nichts an!“
„Aber mich desto mehr“, antwortete der andere, vor Verlegenheit schwitzend. „Man hat mir die Gefangenen zur Bewachung anvertraut.“
„Sie haben sie ja auch bewachen lassen und sodann gar selbst bewacht.“
„Und gerade da, als ich sie unter meinen Augen hatte, sind sie spurlos verschwunden. Das muß während der zwei Augenblicke geschehen sein, in denen ich neben dem Wagen herging, weil er in Bewegung war.“
„Aber drüben sind sie nicht hinaus. Es ist ja alles noch geradeso verschlossen wir vorher.“
„Hüben können sie aber noch viel weniger entkommen sein. Da standen ja wir!“
„Durch die Decke oder den Boden oder die Seitenwand?“
„Ist alles fest und unverletzt.“
„Nun, ich zerbreche mir den Kopf nicht.“
Er wollte sich abwenden, wurde aber daran verhindert. Mit den neuen Wagen war nämlich nebst einem zahlreichen Helferpersonal auch die Gerichtskommission gekommen, welche die Pflicht hatte, den Tatbestand aufzunehmen. Die Herren hatten sich sofort nach der Unglücksstätte verfügt; da sie dort aber hörten, daß die Täter entdeckt und in ein Coupé eingesperrt worden seien, kamen sie zurück, und zwar gerade in dem Augenblick, als der Alte sich entfernen wollte. Er hatte sie vorher gar wohl gesehen, aber gar nicht getan, als ob er sie bemerkt habe. Jetzt zog der höflich grüßend den Hut.
„Ah, Herr Prokurator, Sie!“ sagte er.
„Ja, ich, Herr Kapitän. Eine der traurigsten Pflichten hat mich herbeigerufen. Ergebener Diener, Herr Kapitän!“ grüßte er auch den jüngeren Offizier. „Man hat die fürchterlichen Frevler bereits ergriffen?“
„Allerdings, Herr Prokurator“, antwortete der Gefragte, indem er das Tuch zog, um sich den Schweiß abzuwischen.
„Dieselben sind Ihrer Obhut anvertraut worden?“
„Ja – leider – gewiß!“ stotterte der Arme.
„Leider?“ fragte der Prokurator verwundert.
„Allerdings, leider!“
„Wieso? Warum?“
„Ich habe sie nicht mehr.“
„Ah! Sie haben sie einem anderen anvertraut?“
„Nein.“
„Ich verstehe Sie nicht. Sie haben sie nicht mehr und haben sie doch auch keinem anderen zur Bewachung übergeben?“
„So ist es. Nämlich, sie – sie – sie sind – fort“, stotterte er in höchster Verlegenheit.
„Fort? Bereits abgeführt also?“
„Nein, sondern entflohen“, fiel der Alte ein.
„Entflohen?“ fragte der Prokurator. „Meine Herren, ich hoffe, daß dies auf einem Irrtum beruht! Oder sollte ich gar etwa annehmen, daß bei dem Jammer da unten hier oben ein Scherz –“
„Kein Scherz! Die Verbrecher sind in Wirklichkeit entflohen.“
„Herr Kapitän!“
„Ja, es ist so!“ nickte der Alte in seiner sicheren, bestimmten Weise. „Lassen Sie sich erzählen!“
Da zog der Prokurator die Stirn in Falten und sagte in einem hörbar strengen Ton:
„Ich sehe mich da allerdings genötigt, um Auskunft zu ersuchen!“
„Nun“, fuhr der Alte fort, „ich hörte von dem Unglück und ritt herüber, weil ich einen Herrn mit diesem Zug erwartete. Die Angst und Sorge trieb mich her. Hier angekommen erfuhr ich, daß man die Täter gefangen habe. Der Herr Kapitän war so gütig, sie mir zu zeigen. Sie saßen bei verschlossenen Türen hier in diesem Coupé, an beiden Händen gefesselt und von diesem Posten bewacht. Der Herr Kapitän legte ihnen einige Fragen vor, mußte aber abspringen, weil gerade in diesem Augenblick die Wagen zusammenprallten. Als er nach einer Viertelminute wieder aufstieg, waren sie fort.“
„Wohin?“
„Das wissen wir nicht.“
„Sie müssen doch wissen, wie sie entkommen sind?“
„Eben das ist uns unbegreiflich. Drüben war zu; hüben standen wir, und dennoch sind sie fort.“
„Die Flucht ist ihnen nur drüben möglich gewesen!“
„Aber Tür und Fenster waren verschlossen.“
„Vielleicht die Tür nicht hinlänglich.“
„O doch! Ich selbst habe mich davon überzeugt!“ suchte sich der Kommandant zu verteidigen.