„Sapperment! Befehlen darf ich also nicht mehr. Nur Bitten oder Wünsche darf ich dem gnädigen Fräulein unterbreiten?“
„So ist es allerdings. Höflichkeit ist das erste Gesetz des geselligen und also noch vielmehr des familiären Lebens. Das solltest du endlich einmal wissen. Alt genug bist du dazu!“
Da schleuderte er ihren Arm aus dem seinigen, drehte sich ihr gerade entgegen, und wollte losdonnern. Sie aber machte eine so hoheitsvolle und gebieterische Handbewegung, daß ihm das Wort auf den Lippen erstarb.
„Still“, sagte sie. „Hier gibt es Leute, welche nicht zu ahnen brauchen, welcher Tyrann du bist. Also was verlangt du von mir?“
Er würge seinen Zorn mit aller Gewalt hinab und antwortete:
„Blicke einmal gerade von uns hinab. Siehst du den Herrn und die Dame, welche soeben einen gebrochenen Arm in die Binde legen? Der Herr ist ein Amerikaner namens Deep-hill. Er wird bei uns wohnen, und ich hoffe, daß du dich ihm gegenüber eines freundlicheren Verhaltens befleißigen wirst, als gegen mich.“
„Das wird auf ihn ankommen. Grobheit kann nie Liebe und Höflichkeit ernten.“
„Schön! Doch laß das Philosophieren. Die Dame neben ihm ist eine Engländerin.“
„Verheiratet?“
„Nein, da sie sich Miß nennen läßt.“
„Von Stand?“
„Jedenfalls, denn ihr Name ist de Lissa. Sie wird bei Doktor Bertrand wohnen. Ich habe Grund zu der Vermutung, daß sie in diplomatischen Aufträgen hier ist.“
„Eine Dame?“
„Hat es noch keine Diplomatinnen gegeben?“
„In Thionville und auf Ortry nicht!“
„Da war auch kein Kapitän Richemonte vorhanden. Ich wünsche nun“ – und dieses Wort ‚wünschen‘ betonte er jetzt ganz besonders – „also ich wünsche nun, daß du ihre Bekanntschaft zu machen suchst –“
„Ah, ich soll auch Diplomatin sein?“
„Hast du etwa kein Geschick, die Bekanntschaft einer Dame zu machen?“
„Nein, wenn sie mir nicht gefällt!“
„Diese wird dir zusagen. Sie ist eine große Schönheit.“
„Wollen sehen.“
„Also du machst ihre Bekanntschaft und versuchst, sie auszuhorchen. Verstanden?“
„Sehr gut. Aber gehorchen werde ich nicht.“
„Teufel! Warum?“
„Wenn dein Wunsch mich zum Horchen und Aushorchen veranlassen soll, so werde ich nicht gehorchen. Das ist dreimal Horchen. Dazu habe ich entschieden kein Talent.“
„Ich werde dafür sorgen, daß du Talent bekommst! Jetzt verlasse ich dich. Ich hoffe, bei einer Heimkehr zu hören, daß du mit dieser Dame gesprochen hast. Adieu!“
Er ging.
Als er unten beim Pferd ankam, war Doktor Müller verschwunden, das kümmerte ihn aber nicht. Er stieg auf sein Pferd, ließ dasjenige Doktor Bertrands weiter grasen und ritt davon.
Vorher, als der Alte mit Marion die Böschung emporgestiegen war, hatte Müller folgen wollen. Er hatte also die beiden Pferde an die Sträucher geführt, um sie mittels der Zügel an einem der Bäume zu befestigen. Noch war er damit beschäftigt, da horchte er auf.
„Pst!“ hatte es geklungen.
Er trat zwischen das Gebüsch hinein und erblickte Fritz, welcher hier stehengeblieben war.
„Du hier?“ fragte er. „Es ist dir also nicht gelungen, das Unheil zu verhüten?“
„Nein. Wer hätte an eine Entgleisung des Zuges gedacht?“
„Das ist richtig. Bist du mit dem Hilfswagen gekommen?“
„Nein, sondern mit dem Zug selbst.“
„Was? Wie? Mit dem Zug, der verunglückt ist?“
„Ja. Ich bin nämlich heute früh nach Trier gefahren, um Madelon eher zu treffen als ihre Schwester.“
„Das war gut.“
„Zugleich dachte ich mir, daß ich in einem der Wagen diesen Deep-hill finden könne.“
„Das war nicht schwer, falls er sich wirklich in dem Zug befand.“
„Ich traf ihn aber zufälliger Weise in einem Hotel in Trier“, fuhr Fritz fort.
„Da benachrichtigtest du ihn von der Gefahr, die ihm drohte?“
„Nein, sondern ich zankte mich im Gegenteil sehr gehörig mit ihm, da er sich als Deutschenfresser entpuppte. Ich kannte seinen Namen nicht. Ich erfuhr ihn erst, als wir im Coupé zusammentrafen.“
„So seid ihr also miteinander gefahren?“
„Ja. Wir beide und zwei Damen.“
„War Madelon dabei?“
„Ja, sie war eine dieser Damen.“
„Und die andere?“
„Eine Engländerin namens Miß de Lissa aus London.“
„Weiter.“
„Er stellte sich dieser Engländerin vor. Dabei las ich den Namen Deep-hill auf seiner Karte und wußte nun, daß er mein Mann sei. Ich machte ihn sofort mit der ihm drohenden Gefahr bekannt.“
„Glaubte er es?“
„Nein. Aber als ich seine Brieftasche und seine Millionen erwähnte, besonders als ich den Alten und Graf Rallion nannte, da war er überzeugt.“
„Und dann?“
„Ich sagte ihm einige Worte über das Erlauschte, und da kam er auf den Gedanken, daß man den Zug entgleisen lassen wolle, um zu seinem Geld zu gelangen.“
„Herrgott“, sagte Müller, „jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen!“
„Mir ging es ebenso.“
„Mir wird bange! Schnell, schnell! Was tatet ihr?“
„Wir befanden uns bereits hier in der Nähe. Sollte wirklich eine Entgleisung bewirkt werden, so geschah sie sicher noch vor Thionville.“
„Natürlich, natürlich! Weiter!“
„Wir hatten also keinen Augenblick Zeit zu verlieren. Wir stießen die beiden Türen auf und traten auf das Trittbrett, er drüben und ich hüben. Wir wollten ein Zeichen geben, da wir nicht zu der Signalleine gelangen konnten. Aber es war bereits zu spät. Das Notsignal erscholl bereits. Auf den Schienen lag ein großer Haufen von Steinen.“
„Gott, was wird nun geschehen!“
„Wir konnten die beiden Damen unmöglich zerschmettern lassen. Ich riß also die Madelon aus dem Coupé und er die Engländerin. Dann sprangen wir beide von den Trittbrettern herab, jeder mit seiner Last natürlich und gerade zur rechten Zeit, um nicht mit in die Tiefe gerissen zu werden.“
„Gott sei Dank! Wie wird es dort drüben aussehen?“
Dabei deutete er an dem Damm empor.
„Schrecklich, schrecklich!“ antwortete Fritz.
„Sind viele verletzt?“
„Sehr viele; aber doch gibt es noch mehr Tote. Nur außerordentlich wenige sind leidlich weggekommen.“
„Aber wenn das so geplant gewesen ist, so muß ich vermuten, daß die beiden Kerls gekommen sind, um nach dem Amerikaner zu suchen!“
„So war es auch!“
„Ah! Wirklich, sie kamen?“
„Ja. Der Amerikaner stellte sich tot. Sie nahmen ihm die Brieftasche, und dann, gerade als sie entfliehen wollten, hielt ich sie fest. Sie wurden gebunden und in ein Coupé da oben gesteckt.“
„Gott sei Dank, daß sie ergriffen wurden.“
„Prosit die Mahlzeit! Man hat zwar ergriffen, aber man hat sie leider nicht mehr!“
„Nicht mehr? Du willst doch nicht etwa sagen, daß –?“
„Daß sie entflohen sind? Gerade das will ich sagen. Soeben komme ich von ihrer Verfolgung zurück. Es ist keine Spur von ihnen zu sehen.“
„Aber, wie gelang es ihnen denn, zu entkommen? Es muß da oben und drüben doch so viele Menschen geben, daß eine solche Flucht ganz unmöglich erscheint!“
„Massenhaft sind die Menschen da, und zu Hunderten strömen sie noch, die Neugierigen aus den umliegenden Ortschaften. Freilich darf nicht jeder herantreten. Aber denken Sie sich: Man setzte die beiden Kerls in ein Coupé und stellte auf der belebten Seite desselben einen Posten auf, auf der anderen Seite aber, nach uns zu, wo sich kein Mensch befand, da ließ man sie ohne Wache.“