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„Natürlich. Es soll einer für mehrere Tage an das Bett gefesselt werden.“

„Ich meine, ob er weiß, daß der alte Kapitän es ist?“

„Gewiß weiß er das.“

„Und er hat dir das Mittel sofort gegeben?“

„Sogar sehr gern. Natürlich hat er sich dabei sehr in Reserve gehalten. Er hat mir das Mittel für mein Zahnweh gegeben, mir aber die Wirkung der vierzig Tropfen mitgeteilt.“

„So glaubt er wohl, daß ich dich zu ihm geschickt habe?“

„Nein. Er ist der festen Überzeugung, daß ich aus eigenem Entschluß zu ihm gekommen bin.“

„Dann mag es gehen. Wir sind diesem Herrn sehr großen Dank schuldig. Vielleicht kommt die Zeit, in welcher es uns möglich ist, diese Schuld abzutragen.“

„Das ist sehr einfach und leicht: Wir hauen ganz Frankreich in die Pfanne und lassen nur Doktor Bertrand leben.“

„Pah! Du würdest der erste sein, der sich dagegen sträubte.“

„Gewißlich nicht.“

„Wie stände es denn da mit Nanon?“

„Alle Wetter! Ja, das wäre dumm. Ebenso mit einer gewissen Marion, die den jungen Rallion partout nicht heiraten mag.“

„So ist es, mein Lieber. Also, um zu Ende zu kommen, das Unglück hat den Zug aufgehalten. Jedenfalls fahrt ihr erst mit dem nächsten?“

„Ja, nach vier Uhr.“

„So bin ich neugierig, ob meine Schwester noch weiter mitfährt. Ich muß zu ihr. Uns beide, lieber Fritz, braucht man nicht beisammen zu sehen. Laß mich vorangehen.“

Er stieg die Böschung empor. Oben wollte man ihn zurückweisen, da jetzt der Volksandrang zu groß geworden war; als er aber sagte, daß er der Erzieher von Schloß Ortry sei, ließ man ihn passieren.

Er hatte Schlachten mitgemacht. Der Anblick, der sich ihm hier bot, war ihm also nichts Neues. Sein Auge suchte nach Marion. Er sah sie neben einer hellen, blonden Frauengestalt knien. Beide waren mit der Leiche eines Kindes beschäftigt.

Er trat näher. Als sie seine Schritte hörten, drehten sie sich um. Ja, die Blonde war seine Schwester. Sie tat aber nicht im mindesten, als ob sie ihn kenne. Beider Augen standen voller Tränen.

„Sehen Sie, Herr Doktor!“ schluchzte Marion, indem sie auf die Leiche deutete.

„Der arme Knabe“, sagte er im Ton herzlichen Mitgefühls.

„So schön, so blond und lieblich“, fügte sie hinzu. „Es hat ihm die kleine Brust eingedrückt.“

„Wer mögen seine Eltern sein?“ fragte Emma.

„Die sind jedenfalls mit verunglückt“, bemerkte Müller.

„Mein Gott! Woher vermuten Sie dies?“

„Vater oder Mutter würden, wenn eins von beiden mit dem Leben entkommen wäre, nach dem Kind suchen und fragen, bis die kleine Leiche gefunden wäre.“

„Das ist richtig“, meinte Marion. „Solange noch Leben im Elternherzen ist, bleibt es demselben unmöglich, das Kind zu verlassen oder zu vergessen.“

Müller warf einen teilnehmenden Blick auf die Sprecherin. Was sie da sagte, das wurde ihr von ihrem eignen Herzen eingegeben: an sich selbst erfahren hatte sie es nicht. Wieviel Vater- und Mutterliebe hatte sie denn kennengelernt?

„Wenn sich niemand des Knaben annimmt, werde ich ihn zur letzten Ruhe legen“, sagte sie.

„Ja“, fügte Emma hinzu, „dem Knaben sollen nicht die Blumen am Hügel fehlen. Sie erlauben mir, liebe Baronesse, mit Ihnen zugleich seine Mutter zu sein.“

Da strecke Marion ihr das schöne Händchen entgegen und antwortete:

„Gewiß, meine liebe Miß Harriet! Wieviel besser wäre es, wenn wir für ihn im Leben sorgen könnten, anstatt nun im Tod. Wie doch das Leid und das Mitgefühl die Herzen schnell verbindet. Wir haben uns kaum eine halbe Stunde gesehen, so – so – so –“

Sie stockte. Emma verstand sie. Sie ergriff die Hand der verlegenen Sprecherin und fuhr an deren Stelle fort:

„So haben wir uns doch schon recht herzlich liebgewonnen, wollen Sie sagen? Nicht?“

„Ja, das wollte ich sagen. Auf Friedhöfen blühen die Blumen oft am schönsten, und hier auf dem Acker des Jammers ist es, als ob die innigen Gefühle sich am schnellsten entwickeln wollten.“

„Lassen wir dieser Entwicklung Raum, liebe Baronesse. Oder erlauben Sie mir nicht gern, Ihre Freundin zu sein?“

„Oh, wie sehr gern.“

Sie legten die Arme umeinander und küßten sich.

Es gibt Seelen, welche füreinander bestimmt zu sein scheinen. Sie erfassen sich sofort, sobald sie sich finden, während andere jahrelang einander sehen können, ehe sie ein Bedürfnis der Annäherung empfinden.

Müller stand einige Schritte hinter ihnen. Er betrachtete mit Rührung das schöne Paar, welches da vor ihm kniete. Beide von gleicher Schönheit, hatte doch jede ihre eigene Art.

Da fiel der Blick Marions auf ihn. Sie errötete ein wenig und erhob sich.

„Verzeihung, Herr Doktor, daß ich meine Pflicht versäumte. Herr Doktor Müller, Erzieher meines Bruders – Miß Harriet de Lissa aus London.“

Beide verneigten sich voreinander, ganz so, als ob sie sich noch gar nicht gesehen hätten. Emma wußte für den ersten Augenblick wirklich nicht, was für eine Bemerkung sie machen solle; aber Müller, der geistesgegenwärtige Offizier, war sofort mit der Frage bei der Hand:

„Ich vernahm, daß die Damen für diese kleine Leiche sorgen wollen. Es gibt aber dabei behördliche Schritte und dergleichen zu tun, welche für eine Dame nicht immer angenehm sind. Darf ich bitten, mich mit diesen Arrangements zu betrauen?“

„Gern, sehr gern, lieber Herr Doktor“, antwortete Marion.

„Wir verstehen von solchen Dingen nichts und überlassen sie darum sehr gern Ihnen. Ah, dort kommt einer der Retter. Ich muß ihm Dank sagen, daß er der Schwester meiner Nanon einen außerordentlichen Dienst erwiesen hat!“

Sie eilte Fritz entgegen, welcher vorübergehen wollte. Müller blieb allein mit Emma zurück.

„Emma!“ sagte er. „Ich war im höchsten Grad erstaunt, als ich hörte, daß du hier seist. Ich darf dich leider nicht umarmen.“

„Wer hat dich auf meine Anwesenheit vorbereitet?“

„Fritz.“

„Zürnst du?“

„Noch kenne ich den Grund deiner Reise nicht. Hat Großpapa dir die Erlaubnis gegeben?“

„Natürlich!“

„Wie sollte ich denn da Grund haben, dir zu zürnen!“

„Ich habe zwei Veranlassungen.“

„Welche?“

„Erstens Fritz und zweitens Marion.“

„Weshalb Fritz?“

„Er hat den Löwenzahn.“

„Ich weiß es.“

„Himmel! Du weist es und hast es uns noch nicht geschrieben!“

„Durfte ich euch in Unruhe versetzen? Kennst du den Zusammenhang?“

„So ziemlich.“

„Durch wen?“

„Nanon hat ihrer Schwester davon geschrieben.“

„Auch von dem Seiltänzer?“

„Ja.“

„Nun, ich wollte erst den Bajazzo auffinden und ihn zum Geständnis bringen. Dann war es die richtige Zeit, mit unserer Entdeckung hervorzutreten.“

„Haben deine Nachforschungen Erfolg gehabt?“

„Noch nicht. Nun aber auch der zweite Grund deiner Anwesenheit. Der soll in Marion bestehen?“

„Ja, lieber Richard.“

„Inwiefern?“

„Du mußt verzeihen! Ich habe nämlich vor Großpapa geplaudert.“

„O weh! Was sagte er?“

„Er duldet keine Französin als Großschwiegertochter!“

Müller nickte lächelnd vor sich hin und sagte:

„Ich habe, solange ich lebe, eine Französin als Großmutter dulden müssen. Mama war und Tante ist auch eine Französin.“

„Das habe ich ihm auch gesagt.“

„Was antwortete er?“

„In Frankreich seien die Frauen mehr wert als die Männer, in Deutschland aber die Männer mehr als die Weiber.“

„Ja, das klingt ganz wie Großpapa Königsau. Übrigens habe ich gar keine Sorge. Er mag Marion kennenlernen!“