„Schön. Wer war die blonde Dame?“
„Brauchen Sie noch etwas?“
„Für heute nicht.“
„Dann empfehle ich mich Ihnen. Gute Nacht, Monsieur.“
„Halt! Ich will mir noch ein Viertelpfund gelben Zug mitnehmen.“
„Sehr wohl.“
„Also diese blonde Dame?“
„Ist bei uns auf Besuch.“
„Wie heißt sie?“
„Miß de Lissa.“
„Das ist unmöglich!“
„Ich weiß es nicht anders. Hier ist der gelbe Zug. Wird am besten auf Schafleder gestrichen. Sobald es wirkt und das Loch groß genug ist, zieht man den Eiterstock mittels eines geeigneten Instrumentes heraus.“
„Das kenne ich bereits. Wo ist die Dame?“
„Brauchen Sie noch etwas?“
„Donnerwetter! Meinen Sie, daß ich die ganze Apotheke auskaufen soll?“
„Nein. Aber ich darf mit den Herrschaften nur dann verkehren, wenn sie geschäftlich hier sind.“
„Nun gut. Geben Sie mir eine Tüte Wurmhütchen. Aber sagen Sie mir dabei gefälligst, was die Dame ist?“
„Eine Engländerin.“
„Auch das ist unmöglich. Wer war die andere Dame?“
„Die Frau Doktor Bertrand.“
„Ist die Blonde heute mit dem Zug verunglückt?“
„Ja. Hier sind die Hütchen, Monsieur. Drei auf einmal. Besser aber ist es, Sie nehmen vorher eine Tasse Rizinusöl und nachher eine tüchtige Abkochung von Aloe und Sennesblättern.“
„Wenn ich dies beides nehme, brauche ich jedenfalls Ihre Hütchen nicht. Wie lange wird diese Dame hierbleiben?“
„Ich weiß es nicht. Brauchen Sie noch etwas?“
„Nun wirklich nichts mehr.“
„Macht zwei Franken achtzig Centimes.“
„Sackerment! Teure Erkundigungen! Ich brauche ja diese Medikamente eigentlich gar nicht.“
Dabei legte er das Geld hin. Der Provisor griff zu und sagte dann gleichmütig:
„Warum haben Sie dieselben denn dann verlangt?“
„Um nur mit Ihnen sprechen zu können.“
„Gut. Wenn Sie die Waren nicht brauchen, so will ich sie Ihnen für fünfzig Centimes wieder abnehmen.“
Schneffke riß den Mund auf, starrte den Sprecher eine Weile an und sagte dann:
„Kerl, dich sollte man vergolden! Auf Ehre und Pudding! Wenn ich wüßte, daß du dich dieser Pflaster und der Hütchen gleich selbst bedientest, würde ich auf deinen Vorschlag eingehen; aber vielleicht kann ich diese schönen Sachen selbst noch brauchen. Gute Nacht!“
Er ging, und das war sein Glück, denn er kam gerade noch zur rechten Zeit, in das Coupé zu springen. Keine halbe Minute später setzte sich der Zug in Bewegung.
Auch jetzt hatte er das Glück, ganz allein zu sein. Er streckte sich lang aus und schlief, bis der Zug in Metz hielt. Dort begab er sich in den nächsten Gasthof, wo er übernachtete. Früh fragte er nach der Gelegenheit nach Etain. Die Post war bereits abgegangen, und der Hausknecht meinte, daß es am besten sei, von hier bis Etain zu laufen, da es eine sehr kurze Tagestour sei und man dabei die herrliche Gegend genießen könne.
Schneffke ließ sich verleiten. Er kaufte sich eine neue, kleinere Mappe zum Umhängen und einen Feldstuhl. Mit beiden ausgerüstet, machte er sich auf die Wanderung. Abends spät kam er in Etain an, so sehr ermüdet, daß er sich sofort ein Zimmer anweisen ließ und sich zur Ruhe legte. Er hat niemals einem Menschen von dieser Partie erzählt. Vielleicht war sie so kostbar, daß er selbst den Nachgenuß durch die Schilderung niemandem gegönnt. –
Fritz hatte auf der Unglücksstätte der Gerichtskommission seine Aussage zu Protokoll geben müssen, und dann war er mit den beiden Schwestern und Emma nach der Stadt gefahren. Auf dem Bahnhof hatte sich die letztere von den anderen getrennt, um sich zu Doktor Bertrand zu begeben, welcher seine Frau durch einen Boten von dem Eintreffen eines Gastes benachrichtigt hatte.
Fritz wartete mit Nanon und Madelon, bis der Zug aus Trier anlangte. Sie stiegen in das nächste offenstehende Coupé zweiter Klasse. Da lag ein gelb und rot kariertes seidenes Taschentuch.
„Dieses Tuch kenne ich“, sagte Madelon. „Das wird jedenfalls einen Spaß geben.“
„Wem gehört es?“
„Herrn Hieronymus Schneffke, von dem ich euch erzählt habe. Er ist mit diesem Zug nachgekommen und hier ausgestiegen. Hoffentlich versäumt er die Gelegenheit nicht abermals.“
Aber diese Hoffnung wurde doch zuschanden. Madelon mußte ihm das Tuch hinauswerfen.
„Den Mann muß ich mir betrachten“, meinte Fritz, indem er einen Blick über die Schultern des Mädchens hinausgleiten ließ.
„Ah, den kenne ich“, sagte er.
„Wirklich? Nicht war, der ist köstlich?“
„Ja. Aber ich kann Ihnen sagen, daß er ganz und gar nicht so befangen ist, wie er scheint. Er liebt es, sich für dumm halten zu lassen, ist es aber nicht.“
„Wo haben Sie ihn kennengelernt?“ fragte Nanon.
Diese durfte noch nicht wissen, was und woher Fritz eigentlich war; daher brachte diese Frage ihn einigermaßen in Verlegenheit, doch zog er sich schnell aus derselben durch die Antwort:
„Ich habe ihn während meiner Wanderjahre getroffen. Er war damals auf Studienreisen unterwegs.“
Der Umstand, daß die beiden Schwestern nicht offen über Fritzens Verhältnisse verkehren konnten, war ein Hemmnis der Unterhaltung. Die drei jungen Leute legten sich in die Ecken zurück und warfen einander nur hier und da eine Bemerkung zu.
Aber immer wieder suchte Nanons schönes, mildes Auge den Ulanenwachtmeister. Er hatte heute ein fast nobles Aussehen. Er saß da, gerade wie ein vornehmer Herr, so selbstbewußt. Sie hatte ihn noch nicht in so feiner Kleidung gesehen; es wurde ihr fast schwer, den Blick von ihm abzuwenden.
Madelon bemerkte dies, und mit dem feinen Instinkt, der den Frauen eigen zu sein pflegt, erriet sie, daß das Verhältnis dieser beiden kein alltägliches sein könne.
Sie erreichten Metz gegen sechs Uhr. Hier sorgte Fritz sofort für ein Privatfuhrwerk nach Etain. Da die beiden Mädchen immerhin einiges Gepäck bei sich hatten, so sah der Pflanzensammler sich genötigt, auf dem Bock neben dem Kutscher Platz zu nehmen.
Die Pferde waren frisch, griffen gut aus, und so gelangten die Reisenden noch vor Mitternacht an ihr heutiges Ziel. Sie stiegen im besten Gasthofs des Ortes ab, wo Fritz zwei Zimmer bestellte, eins für sich und das andere für die beiden Schwestern.
In diesem letzteren wurde das Abendbrot eingenommen, dann zog sich Fritz zurück.
„Endlich sind wir seit unserem heutigen Zusammentreffen einmal allein“, sagte Madelon. „Und nun können wir ungestört miteinander sprechen.“
„Oh“, meinte Nanon, „vor Herrn Schneeberg brauchen wir kein Geheimnis zu haben.“
„Meinst du? Du schenkst ihm also dein volles Vertrauen?“
Nanon errötete ein wenig, antwortete aber doch:
„Ja. Und dieses verdient er auch im vollsten Maß.“
„Wer ist er denn eigentlich?“
„Ein Waisenknabe, geradeso wie auch wir beide Waisen sind. Ich habe dir einiges über ihn geschrieben, was ich heute vervollständigen will.“
Sie erzählte nun ausführlich, was sie von ihm wußte und wie sie mit ihm zusammengetroffen war. Doch war sie ihrer Schwester gegenüber nicht ganz so aufrichtig wie gegen ihre Freundin Marion de Sainte-Marie.
„Eigentümlich“, sagte Madelon. „Ich habe vor einigen Tagen einen Menschen kennengelernt, der ihm ganz außerordentlich ähnlich sieht.“
„Ich auch. Welch ein Zusammentreffen!“
„Wer war das?“
„Ein Maler namens Haller, der für einen Tag bei uns auf Ortry war.“
Madelon nickte leise vor sich hin und fragte:
„Hat dir dieser Mann gefallen?“
„Warum nicht?“
„Es ist derselbe, den ich meine.“