„Wie? Derselbe? Dieser Haller ist jetzt in Berlin?“
„Ja. Wüßte ich, daß du verschwiegen sein könntest, so würde ich dir ein Geheimnis mitteilen.“
„Madelon! Willst du mich beleidigen? Glaubst du, daß ich das, was mir die Schwester anvertraut, nicht zu bewahren verstehe? Wir sind durch alles Unglück des Lebens miteinander gegangen, unsere Herzen haben sich nie entzweit, wollen wir jetzt beginnen, Mißtrauen zu hegen?“
„Nein, nein, meine liebe Nanon. Dieser Haller ist nämlich kein Maler, sondern ein französischer Offizier.“
„Was du sagst!“ rief Nanon überrascht.
„Ja, ein Offizier und Spion. Frankreich will Krieg mit Deutschland beginnen, darum sendet es solche Leute zu uns, welche die Aufgabe haben, unser Land und unsere Verhältnisse zu erkunden.“
„Das hätte ich ihm nicht zugetraut.“
„Mir hat es ganz besonders leid getan. Er wohnt mit mir in demselben Haus.“
„Was du sagst!“
„Ich habe ihn freundlich und mit Vertrauen empfangen, und denke dir, unsere Verhältnisse scheinen ihm nicht ganz unbekannt zu sein.“
„Das wäre wunderbar.“
„Er sprach von Aufklärungen, die er mir nach meiner Rückkehr geben will.“
„Glaubst du daran?“
„Ich weiß allerdings nicht, was ich denken soll. Man muß es geduldig abwarten. Ich habe einige Hoffnung auf morgen gesetzt.“
„Ich gar keine.“
„Warum? Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß der Pflegevater doch gewußt hat, wer wir sind. Er wird nicht gestorben sein, ohne es seinem Sohn mitgeteilt zu haben. Das ist so meine Meinung.“
„Und du denkst, daß dieser uns das Geheimnis offenbart?“
„Ja.“
„Das wird er nicht tun. Diesen Charles Berteu kenne ich besser als du.“
„Er war zwar immer ein eigenwilliger, sprachfauler Knabe, aber wirklich zuleide getan hat er uns mit Absicht wohl nichts Bedeutendes.“
„Bis zu unserer Trennung, ja. Du gingst eher in Stellung als ich. Ich blieb auf Schloß Malineau zurück. Kannst du dich erinnern, daß er mich immer auszeichnete?“
„Das weiß ich allerdings noch sehr genau.“
„Nun, nach deiner Entfernung trat das noch viel bestimmter hervor. Er machte mir – Liebesanträge.“
„Liebesanträge?“ fragte Madelon erstaunt. „Er, der Pflegebruder?“
„Ja. Ich wies ihn natürlich zurück. Das nahm er mir übel und warf seinen Haß auf mich. Auch später noch verfolgte er mich. Er hat mir nach Ortry oft geschrieben, immer nur von Liebe und Seligkeit, von Lust und Glück, von Himmel und Hölle. Ich habe ihm einmal geantwortet, um ihn zum Schweigen zu bewegen, dann aber nicht wieder, weil es vergeblich war.“
„Das hätte ich von diesem Pflegebruder Charles nicht geahnt.“
„Oh, noch viel mehr! Er ist nach Ortry gekommen und hat mich während meiner Spaziergänge abgelauert. Es ist mir nur mit äußerster Anstrengung gelungen, ihm zu entfliehen.“
„Der Schändliche!“
„Dann ging ich mit Marion auf Reisen. Kurz nach meiner Rückkehr bekam ich abermals einen Brief, der mich benachrichtigte, daß er nächstens kommen werde, um mündlich mit mir zu sprechen. Ich würde nicht wagen, einen Schritt vor die Tür zu tun, aber ich habe einen Schutz, auf den ich mich verlassen kann.“
„Wer ist das?“
„Fritz Schneeberg, der Kräutersammler.“
„Ah, dieser!“
„Ich weiß ganz genau, daß er stets in meiner Nähe ist, wenn ich ausgehe. Wir haben nicht etwa eine Vereinbarung getroffen, aber es ist, als ob dieser treue Mensch allwissend wäre. Sobald ich spazieren gehe, sehe ich ihn. Ich würde ganz gewiß nicht wagen, zum Begräbnis zu kommen, wenn ich diesen Schutz nicht hätte.“
„Denkst du, daß Charles seine Angriffe erneuern wird?“
„Ich befürchte es.“
„Und daß Herr Schneeberg dich beschützen kann?“
„Das hoffe ich.“
„Wie soll er das anfangen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Willst du ihn mit in das Schloß nehmen?“
„Das wird nicht gehen.“
„Nein, das geht nicht. Wie also soll er dich beschützen?“
„Ich muß es ihm überlassen. Es ist am besten, ich spreche ganz aufrichtig mit ihm, und zwar noch heute abend.“
„Heute abend noch? Wo denkst du hin?“
„Warum nicht?“
„Nach Mitternacht! Ein junges Mädchen zu einem einzelnen Herrn im Gasthof!“
„Liebe Madelon, bei euch in Berlin muß es doch recht schlimme Menschen geben, weil du sowenig Vertrauen hast. Dieser Herr Schneeberg ist so gut, so ehrlich und bescheiden. Er wird nicht ein Wort sagen, was mir unangenehm sein könnte.“
Madelon konnte natürlich nicht sagen, daß gerade dieser gute, bescheidene und ehrliche Herr Schneeberg aus Berlin sei, noch dazu von den Ulanen. Sie meinte also nur:
„Tu, was dir recht und klug erscheint! Du kennst ihn ja besser als ich.“
„So gehe ich zu ihm. Wer weiß, ob ich morgen Zeit finde, unter vier Augen und vertraulich mit ihm zu sprechen.“
„Dann säume nicht, bis es zu spät wird. Ich gehe schlafen. Ich bin so sehr müde. Ich habe von Berlin bis hierher kein Auge schließen können.“
Nanon verließ das Zimmer und begab sich einige Türen weiter hin. Dort saß Fritz am offenen Fenster und blickte in die milde Nacht hinaus. Er hatte während der vorigen Nacht nicht schlafen können, aber er fühlte trotzdem keine Müdigkeit. Sein Licht war verlöscht, und nun blickte er nach den Sternen des Himmels, welche alle er nicht vertauscht hätte gegen den Stern, welcher ihm seit kurzem hier unten aufgegangen war.
Da klopfte es leise, leise an seine Tür. Er fuhr erstaunt herum und gebot:
„Herein.“
Die Tür wurde ein wenig geöffnet und er hörte:
„Sind Sie noch munter – o nein, Sie haben ja kein Licht.“
Er kannte diese Stimme. Er sprang wie elektrisiert auf und antwortete:
„Ich bin noch nicht zur Ruhe, Mademoiselle Nanon! Ich werde gleich Licht anbrennen. Bitte, kommen Sie.“
Er zündete das Streichholz an, und als dann die Lampe brannte, sah er sie lauschend unter der halbgeöffneten Tür stehen, gerade wie zur Flucht bereit.
„Fürchten Sie sich vor mir Mademoiselle?“ sagte er.
„O nein! Aber es ist so spät; da macht man keine Besuche. Bei Ihnen war es dunkel, und übrigens wußte ich nicht genau, ob ich auch die richtige Tür getroffen hatte.“
„Nun, es ist die richtige. Bitte, setzen Sie sich auf das Sofa! Ich nehme hier auf dem Stuhl Platz!“
Das war so bescheiden und vertrauenerweckend. Der Stuhl, von dem er sprach, stand fast in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers. Sie setzte sich also auf das Sofa. Er schloß das Fenster und nahm dann auch Platz. Sie blickte ihm mit mildem, freundlichem Lächeln entgegen und fragte:
„Sie hatten kein Licht. Wird Ihnen da die Zeit nicht lang?“
„Ganz und gar nicht.“
„Was taten Sie denn in dieser Dunkelheit?“
Eine leise Röte flog über sein Gesicht, als er antwortete:
„Oh, ich tat etwas sehr leichtes und ungefährliches. Ich guckte die Sterne an.“
„Die Sterne? Ei, ei, Monsieur Schneeberg. So sind Sie wohl gar ein Dichter?“
„Oh, nichts weniger als das. Ich habe im ganzen Leben noch keinen Vers gemacht.“
„Oder ein Astronom?“
„Das noch weniger. Astronomen müssen große Rechner sein, und bei langen Zahlen vergesse ich stets das kleine Einmaleins, um wieviel mehr das große!“
„Wissen Sie denn, daß man ein Dichter sein kann, ohne Reime zu machen? Eine brave Frau, welche ihr Heim mit der Harmonie des Glücks und des Friedens ausgestattet, ist vielleicht eine bessere Dichterin als eine andere, welche ganze Bände von Liedern schreibt.“
„Sie haben recht. So eine Frau ist mehr wert als alle Schätze der Erde.“
„Und ebenso kann man Astronom sein, ohne viel rechnen zu können!“