„Möge sie in Erfüllung gehen.“
„Wir denken nämlich, daß unser Pflegevater von unserer Abstammung unterrichtet gewesen ist und daß er das darauf bezügliche vor seinem Tod dem Sohn mitgeteilt hat.“
„Und Sie meinen, daß dieser es Ihnen nun seinerseits morgen offenbaren wird?“
„Ja. Madelon gegenüber habe ich allerdings einige Zweifel geäußert, damit sie nicht allzusehr enttäuscht wird, wenn sich unsere Hoffnung nicht erfüllen sollte. Was denken Sie davon?“
„Ich will Ihnen keine Unwahrheit sagen: Sie werden nichts erfahren.“
„Aber was kann ihm das Geheimnis nützen?“
„Viel, sehr viel!“
„Ich sehe es nicht ein!“
„Weil Sie eben das Geheimnis nicht kennen, Mademoiselle. Eins aber ist sicher: Es bildet in seiner Hand eine Waffe gegen Sie, sogar eine sehr gefährliche Waffe.“
„Gott! Wollen Sie mir bange machen?“
„Nein. Ich meine nicht eine Waffe, welche Ihnen körperlich gefährlich werden kann, sondern ich denke, daß er sie in Anwendung bringen wird, um Ihren Widerstand gegen seine bisher erfolglose Werbung zu besiegen.“
„Es wird ihm nicht gelingen!“
„Das kann man nicht wissen. Wie nun, wenn er Ihnen Reichtümer verspricht?“
„Er ist nicht reich!“
„Oder Ehren?“
„Die Ehre, welche er besitzt, ist nichts wert.“
„Oh, ich spreche nicht von seinem Reichtum und seiner Ehre, sondern ich meine damit das, was Ihnen gehört. Ihr Vater kann ein Edelmann gewesen sein.“
„Meinen Sie?“
„Es ist sehr leicht möglich. Wenn ich Sie so ansehe, Mademoiselle, so ist es mir, als ob Sie nur die Tochter einer ausgezeichneten Familie sein könnten. An Ihnen ist alles so fein, so schön, so hell, so licht. Sie sind wie ein Stern, dessen Strahl einem jeden, den er trifft, doppeltes Leben geben muß.“
Sie legte die Hände ineinander, blickte ihn treu und gut an, und sagte:
„Monsieur, Sie lassen da Ihr Herz Dinge sagen, welche Sie ihm eigentlich verbieten sollten.“
„Nun gut! Wie nun aber, wenn Ihr Vater reich gewesen wäre?“
„Das ist allerdings möglich, denn Mutter hat so viele wertvolle Sachen gehabt, welche sie nach und nach verkaufen mußte.“
„So sehen Sie! Nun fordert dieser Charles Berteu Ihre Liebe oder wenigstens Ihre Hand. Sagen Sie ja, so enthüllt er Ihre Abstammung und Sie werden reich; sagen Sie aber nein, so teilt er Ihnen nichts mit, Sie bleiben arm.“
„Das zöge ich alsdann vor!“
„Und müssen Sie nicht auch auf Mademoiselle Madelon Rücksicht nehmen?“
Sie blickte nachdenklich vor sich nieder und antwortete dann:
„Madelon wird lieber arm bleiben, als mich unglücklich sehen wollen!“
„Gott segne Sie beide! Noch eins. Wo wohnt dieser Charles Berteu? Im Schloß selbst?“
„Nein, sondern in einem Nebengebäude, welches für den Verwalter bestimmt ist.“
„Kennen Sie dieses Gebäude?“
„Sehr gut, denn wir sind ja in demselben erzogen worden.“
„Ist es bedeutend?“
„Neun Fenster in der Front und vier Fenster in der Tiefe.“
„Wie hoch ist es?“
„Parterre und ein Stockwerk.“
„Hat es Läden?“
„Nur im Parterre.“
„Blitzableiter?“
„Ja, der ist vorhanden.“
„Balkon?“
„Nein, aber eine Veranda, welche um das ganze Gebäude führt und mit Wein bepflanzt ist.“
„Ah, diese reicht bis an das Stockwerk? Das Haus steht also frei und hat keinen Garten?“
„So ist es. Warum fragen Sie aber nach all diesen Dingen?“
„Nur aus Vorsicht, nicht nach einem bestimmten, fertigen Plane. Man muß sich bei solchen Veranlassungen alles zu vergegenwärtigen suchen. Um wieviel Uhr beabsichtigen Sie morgen aufzubrechen?“
„Um die Hälfte des Vormittags.“
„So werde ich Ihnen einen Wagen besorgen.“
„Ich wußte es, daß Sie sich unserer noch weit mehr annehmen würden, als wir höflicherweise verlangen dürfen. Wir wachsen von Stunde zu Stunde in Ihrer Schuld, mein lieber Monsieur Schneeberg.“
„Ich würde ganz glücklich sein, wenn diese Schuld so groß werden könnte, daß Sie sich fürchteten, von ihr zu sprechen.“
„Aber was kann ich Ihnen dafür bieten!“
Er schüttelte den Kopf, machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung und sagte:
„Man sagt, daß es Geschöpfe gibt, welche ihre Kraft gar nicht kennen. So ist es auch mit den Menschen. Es gibt Menschen, welche unendliche Reichtümer besitzen, ohne daß sie es ahnen. Ich kenne eine junge Dame, welche so reich ist, daß jeder freundliche Blick ihres Auges aus lauter Diamanten zusammengesetzt ist. Soll mir ein solcher Blick nicht tausendmal mehr wert sein als das, was Sie mein Guthaben nennen?“
Da ließ sie ein leises goldenes Lachen hören und antwortete:
„Darf ich wissen, wer diese junge Dame ist?“
„Sie selbst sind es, Mademoiselle Nanon.“
„So werde ich Sie von nun an nur mit diamantenen Blicken bezahlen.“
„Tun Sie das, und ich werde nicht wünschen, seliger zu sein!“
Da stand sie vom Sofa auf, und auch er erhob sich von seinem Stuhl. Sie reichte ihm die beiden kleinen, weißen Händchen dar, welche er vorsichtig und leise ergriff.
„Wissen Sie, was Sie sind, Monsieur Schneeberg?“ fragte sie.
„Ich möchte es von Ihnen hören!“
„Ein Kind sind Sie, ein kleines, allerliebstes, folgsames und zufriedenes Kind, welches man immer wieder küssen und herzen möchte.“
„Gott, wäre es doch so!“ antwortete er, indem seine breite Brust sich unter einem tiefen Seufzer dehnte.
„Und wissen Sie, was Sie noch sind?“
„Noch etwas?“
„Ja. Ein Mann sind Sie, ein stolzer, starker, mutiger und treuer Mann, ohne Fehl und Falschheit, ein Mann, dem man den Kopf an das Herz legen möchte, um ihn immer und ewig dort liegen zu lassen. Das sage ich Ihnen, weil ich Sie kenne. Ein anderer würde mich nun gleich in seine Arme nehmen und liebkosen: aber Sie tun das nicht; Sie machen da trotz Ihrer Einfachheit viel höhere Ansprüche. Sie wollen mit der Seele, mit dem Gemüt genießen. Sie wollen mit dem Herzen liebkosen und küssen. Monsieur Schneeberg; ich bin ein armes, dummes Mädchen; ich weiß nicht, was eine andere an meiner Stelle tun würde, aber ich wollte, Sie würden einmal recht sehr glücklich, unendlich glücklich! Und heute will ich noch eine letzte große Bitte aussprechen. Wollen Sie sie mir erfüllen?“
„Es ist so gut, als hätte ich sie schon erfüllt!“
„Gut! Denken Sie einmal, daß ich jetzt Ihr kleines gutes Weibchen wäre, nicht?“
„O Gott, wie gern!“
„Nun will ich einmal meinen Kopf an Ihr Herz legen. So! Nicht wahr, ich darf?“
„Tausend- und tausendmal.“
„Nun legen Sie mir Ihre rechte Hand auf den Kopf. Bitte, lieber Monsieur Schneeberg.“
„So?“ fragte er, indem er ihren Wunsch erfüllte.
Es war ihm, als ob ihm das Herz vor Seligkeit zerspringen wolle.
„Ja, so“, antwortete sie. „Nun beugen Sie sich ein wenig herab zu mir und sagen mir ganz genau die Worte nach, welche ich Ihnen vorsagen werde. Wollen Sie das?“
„Ich muß, ich habe ja versprochen, Ihren Wunsch zu erfüllen.“
„Ja, Sie müssen gehorchen“, sagte sie unter einem glückseligen Lächeln, „Sie, der große, starke Mann mir, dem kleinen Mädchen. Also, nun sagen Sie: –“
Und leise und langsam, sehr langsam, sprach sie ihm die Worte vor:
„Meine liebe, liebe, gute Nanon.“
Es traten ihm die Tränen in die Augen. Er hätte am liebsten vor Glück und Seligkeit laut aufweinen mögen; aber er bezwang sich und sagte es nach:
„Meine liebe, liebe gute Nanon.“
Und nun plötzlich ergriff sie seinen Kopf, zog ihn noch ein Stück niederwärts und preßte ihre Lippen nur einmal zwar, aber so recht warm und innig auf seinen Mund.