„Gute Nacht, mein lieber, lieber, guter Fritz.“
Das hörte er noch, dann war sie plötzlich zur Tür hinaus. Er blieb stehen, als ob er kein Glied bewegen könnte, und erst nach einer längeren Pause wendete er sich ab.
„Welch ein Mädchen“, flüsterte er. „Wie ein Engel des Himmels. Und welch ein Glück. Es wäre für einen Fürsten zu köstlich und zu groß. Und da fällt es mir zu, mir, dem Waisenknaben, dem Ulanenwachtmeister, der keine andere Zukunft hat, als die gar nicht glanzvolle Anwartschaft auf eine Anstellung als Gendarm oder Steueraufseher.“ – – –
Schloß Malineau war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts niedergebrannt und wurde von dem damaligen Besitzer im Renaissance-Stil schöner und größer wiederaufgebaut, als es vorher gewesen war.
Der Eigentümer, ein stolzer Aristokrat, hatte nicht gewollt, daß ein Untergebener mit ihm unter demselben Dach wohne, und darum die Wohnung des Inspektors oder Verwalters von dem Hauptkomplex abgezweigt.
Diese letztere war ganz so, wie Nanon sie beschrieben hatte; höchstens muß noch hinzugefügt werden, daß sie ein glattes Dach besaß, gerade wie das Schloß selbst.
In dieser Wohnung herrschte heute ein Geruch, welcher lebhaft an Firnis oder Kienöl erinnerte. Es war jener Geruch, welcher neuen Särgen zu entströmen pflegt.
In einer zweifenstrigen Stube saß ein junger Mensch, der vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen mochte. Seine Gestalt war nicht hoch, aber außerordentlich breit und kräftig gebaut. Ein dicker Kopf, ein Stiernacken und kleine, starre Augen machten zwar den Eindruck des körperlich Kräftigen, aber des geistig niedrig Stehenden.
Er hatte ein Buch vor sich liegen. In demselben standen Ziffern, mit denen er sich beschäftigte.
Dieser junge Mensch war Charles Berteu, der Sohn des verstorbenen Verwalters, welch letzterer heute beerdigt werden sollte. Er schien sehr übler Laune zu sein.
Da öffnete sich die Tür, und eine Frau in Trauer trat ein. Sie war klein, aber starkknochig, hatte keine Zähne mehr – und eine lederartige, gelbe Haut machte ihr Gesicht sehr unangenehm.
„Nun, Charles“, sagte sie. „Wieviel Wein?“
„Schon wieder dieser verdammte Wein“, fuhr er auf. „Wir selbst haben keine einzige Flasche.“
„Aber drüben im herrschaftlichen Keller.“
„Nun, ich rechne ja bereits seit einer Stunde, wieviel wir nehmen könnten und wieviel Dreier aus Fünfern zu machen wären; aber es ist verteufelt schwierig.“
„So berechne es später. Heute ist keine Zeit dazu.“
„Aber wenn uns nun die Herrschaft plötzlich überfällt, und die Bücher sind nicht in Ordnung.“
„Man kommt nicht sogleich.“
„Oho! Der General hat geschrieben, daß er in vier Wochen kommen werde. Das wäre ja gut und schön. Aber nun haben wir den Tod des Vaters melden müssen, und da steht zu erwarten, daß er viel eher eintreffen wird, um die Bücher und Bestände zu untersuchen.“
„Auch das würde uns nicht in Verlegenheit bringen. Der General ahnt doch nicht im entferntesten, daß Vater zweierlei Buchführung eingeführt hatte, eine für sich und eine für den gnädigen Herrn.“
„Das ist's ja eben, was mir Schmerzen macht. Vater war äußerst bewandert in solchen Finessen; da er mir aber stets nur halben Einblick gestattete, so ist mir jetzt die Sache fast zu schwierig. Soviel habe ich herausgefunden, daß wir Ersparnisse nicht gemacht haben.“
Die Frau stieß einen Seufzer aus.
„Reich sind wir nicht“, sagte sie.
„Ganz und gar nicht. Ehe der General kommt, müssen neunhundert Franken in die Kasse. Woher aber nehmen?“
„Ich denke, der alte Kapitän – – –?“
„Nun ja, diese Pulverbestellung wird Geld bringen, doch ist das auch nur ein größeres Loch, welches man gräbt, um ein kleines auszufüllen.“
„Ich hatte mir das anders gedacht. Wir hätten beim Tod des Vaters unsere Wolle trocken haben können.“
„Das war ja stets seine Absicht auch – aber diese verdammten Geburtsscheine und Taufzeugnisse. Wo in aller Welt sie nur stecken mögen.“
„Wir finden sie nicht, nachdem wir bereits alles umgestürzt haben.“
„Sie waren aber da, wirklich da?“
„Ja. Die Mutter der beiden Mädchen hat sie selbst aufbewahrt, und zwar an einem sicheren Ort.“
„Vater hat diesen Ort gewußt?“
„Natürlich.“
„Wußte er auch, welches der wirkliche Name der beiden Mädchen ist?“
„Er wußte alles.“
„Desto ärgerlicher, daß er so schnell sterben mußte, ohne noch ein Wort sprechen oder schreiben zu können.“
„Was könnten wir für die Dokumente bekommen? Gewiß große, sehr große Summen“, sagte die Frau.
„Dummheit!“ antwortete der Sohn. „Du würdest wohl wirklich die Dokumente an die beiden Mädchen verkaufen. Das fehlte noch. Ich will alles haben, alles.“
„Und nun hast du nichts.“
„Unsinn! Die Schriftstücke werden sich früher oder später doch noch finden; die Hauptsache sind die Mädchen. Ich heirate Nanon; dann bin ich des Erbes sicher.“
„Seit wann hast du sie denn eigentlich heiraten wollen, ohne daß sie ja gesagt hat?“
„Halte den Mund! Sie wird mich doch noch nehmen müssen.“
„Pah! Ich glaube nicht daran.“
„Ich werde es dir beweisen. Wäre Vater nicht gestorben, so hätte ich mich jetzt zu ihr nach Ortry auf den Weg gemacht, da wir sowieso den Pulvertransport haben. Der Alte hätte mir geholfen, denn es kann ihm nur lieb sein, daß die Nanon von der Baronesse wegkommt, die in ihr eine Stütze hat. Da jedoch der Todesfall eingetreten ist, kann ich es anders anfangen. Geht es nicht im Guten, so geht es im Bösen. Heut aber muß es sich entscheiden. Heut wird sie mein, freiwillig oder mit Gewalt.“
„Nur Vorsicht, Charles!“
„Pah! Wer zum Anführer der Franctireurs mit gewählt wurde, kann kein unebener Kerl sein.“
„Aber wenn sie nun nicht kommt?“
„Sie kommt. Sie hat nicht gewußt, was der Vater war, und darum sehr viel auf ihn gehalten.“
„Und wenn sie nun deine Frau ist – was dann?“
„So wird das ganze Haus umgerissen, um die Dokumente zu finden.“
„Dann erbt aber die Madelon die Hälfte.“
„Keine Centime; dafür laß mich sorgen. Mein Plan ist bereits gemacht. Übrigens sage ich dir offen, daß ich die Nanon nicht nur des Geldes wegen haben will. Sie ist ein verdammt maulrechtes Mädchen, ein Bissen, wie man feiner keinen bekommen kann. Ich lecke alle Finger nach ihr. Horch!“
Man hörte von unten her das Rollen eines Wagens und das Getrappel von Pferden.
„Wer mag das sein?“ fragte die Mutter.
„Geh hinab und sieh nach.“
„Wenn sie es nun ist, willst du sie nicht selbst empfangen?“
„Nein. Das paßt nicht in meine Hausrolle. Sie ist das Ziehkind, und ich bin der richtige Sohn. Sie hat zu mir zu kommen, um mich zu begrüßen.“
Die Frau ging; dann hörte man unten helle Mädchenstimmen erschallen. Nach einer Weile nahten Schritte. Die Mutter machte die Tür auf und sagte:
„Hier hast du eine Überraschung – alle beide.“
Er drehte sich rasch um; er erblickte Nanon und Madelon. Seine Stirn wurde kraus. Das war nicht nach seinem Sinn. Madelon war ihm im Weg. Er stand auf, reichte beiden die Hand und sagte:
„Es ist ein Trauerhaus, in dem ihr seid; aber trotzdem will ich euch willkommen heißen. Auf Nanon hatte ich gerechnet, auf dich nicht, Madelon. Wie kommst du aus Deutschland, von Berlin hierher?“
Die beiden Mädchen waren sehr ernst. Man sah es ihnen an, daß sie sich in der Nähe dieses Menschen nicht wohl befanden.
„Nanon hatte mir telegrafiert, und ich bin sofort in die Bahn gestiegen“, antwortete die Gefragte.