Er befand sich an einer etwas breiteren Stelle der Straße, weil er sich gesagt hatte, daß hier der Kutscher jedenfalls umlenken und dann warten werde. Das geschah auch. Der Mann stieg vom Bock, befestigte die Zügel und öffnete den Kutschenschlag, um hineinzusteigen und es sich dort bequem zu machen.
Das war der geeignete Augenblick. Fritz huschte unhörbar unter dem Baum, hinter dem er sich versteckt gehabt hatte, hervor und legte dem Kutscher die beiden Hände so fest um die Kehle, daß der so unerwartet Überfallene keinen Laut ausstoßen konnte. Der Mann war vor Schreck ganz steif und bewegungslos, und als Fritz seine Finger noch fester zusammenschloß, stieß der Franzose ein tiefes Röcheln aus und sank zur Erde. Er war beinahe erwürgt und hatte die Besinnung verloren.
Fritz nahm ihm den Mantel und den breitkrempigen Hut ab, legte beides einstweilen zur Seite, faßte den Mann dann und schleifte ihn eine ziemliche Strecke in den Wald hinein. Dort fesselte er ihn mit Hilfe seiner Stricke an einen Baum und band ihm sein eigenes Taschentuch vor den Mund, damit er, zur Besinnung zurückgekehrt, sich nicht durch Rufen Hilfe verschaffen könne.
Dann kehrte er zu dem Wagen zurück, nahm den Mantel um, vertauschte den breitkrempigen Hut mit dem seinigen, den er einstweilen in den Sitzkasten steckte, machte die Zügel los, griff zur Peitsche und stieg auf den Bock.
Nun war er bereit und wartete auf den Boten, der ihn holen sollte. Dieser kam nach vielleicht einer Viertelstunde.
„Pst!“ sagte er, als er die Kutsche erreicht hatte.
„Ja“, antwortete Fritz halblaut. „Ist's Zeit?“
„Ja, aber nicht zu schnell, denn vom Dorf ist es weiter hin als von hier.“
Die Pferde zogen an. Nach kurzer Zeit hielt Fritz vor der Tür, aber so, daß ihn das Licht nicht treffen konnte. Er hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hutkrempe ziemlich weit heruntergebogen, so daß man sein Gesicht gar nicht erkennen konnte.
Nanon und Madelon traten aus der Tür, von Berteu, seiner Mutter und einigen Gästen begleitet. Sie nahmen Abschied und stiegen ein. Berteu näherte sich den Pferden und flüsterte dem Kutscher zu:
„Umweg wenigstens eine halbe Stunde.“
Fritz nickte mit dem Kopf und fuhr dann ab, natürlich in der Richtung nach dem Dorf zu. Die beiden Damen hatten wirklich nichts bemerkt und waren ganz ohne Ahnung der Gefahr, welche ihnen gedroht hatte. Eine kurze Strecke vor dem Dorf hielt der Wagen, und sie bemerkten, daß der Kutscher vom Bock stieg. Nanon öffnete das Fenster und fragte:
„Was gibt es? Warum halten Sie?“
„Weil ich mit Ihnen zu sprechen habe.“
Sofort wurde es den beiden angst. Was konnte dieser Mensch hier mit ihnen zu sprechen haben?
„Steigen Sie nur wieder auf“, gebot Madelon. „Im Dorf ist es auch noch Zeit, uns Ihre Mitteilungen zu machen.“
„Nein, Mademoiselle Madelon“, antwortete er, nähertretend, mit seiner richtigen Stimme.
„Mein Gott!“ rief Nanon. „Das ist ja nicht der Kutscher! Diese Stimme kenne ich; das ist ein anderer!“
„Nun, wer bin ich, Mademoiselle Nanon?“
„Sie sind – ah, Monsieur Schneeberg, sind Sie es?“
„Ja, kein anderer. Fürchten Sie sich nicht.“
„Gott sei Dank! Mir begann bereits angst zu werden. Aber, Monsieur, wo ist denn unser Kutscher?“
„Im Dorf wartet er auf Sie mit seinem Wagen.“
„Ah! Ist denn dieser nicht der seinige?“
„Nein. Dieser Wagen nebst Pferden gehört Ihrem lieben Bruder Charles Berteu.“
„Gott, was hat das zu bedeuten? Der Wagen des Bruders! Laß uns sofort aussteigen, Madelon!“
„O bitte, warten Sie noch“, bat Fritz.
„Aber das geht nicht mit rechten Dingen zu.“
„Allerdings nicht. Sie sollten entführt werden.“
„Entführt!“ riefen beide.
„Ja. Aber ich hatte Ihnen doch versprochen, über sie zu wachen.“
„Ich danke Ihnen, Monsieur. Aber inwiefern sollten wir denn entführt werden?“
„Sie sollten nach der Pulvermühle geschafft werden, wo Sie von Berteu und Ribeau erwartet werden.“
„Ribeau, dessen ich mich kaum erwehren konnte!“ sagte Madelon.
Fritz erzählte ihnen alles, bis der Plan ihres Bruders klar vor ihren Augen lag. Sie schauderten.
„Welche Schlechtigkeit!“ meinte Nanon. „Ich hätte diesen Tag nicht überlebt.“
„Ich auch nicht“, fügte Madelon hinzu. „Herr Schneeberg, Sie haben uns das Leben gerettet. Fahren wir eilig nach dem Dorf!“
„Fürchten Sie sich wirklich so sehr vor diesen beiden Menschen?“ fragte er.
„Nun Sie bei uns sind, haben wir keine Angst mehr.“
„Das ist mir sehr lieb; denn das gibt mir den Mut, eine recht große Bitte auszusprechen.“
„Reden Sie, lieber Monsieur Schneeberg“, sagte Madelon.
„Ich möchte am liebsten nicht nach dem Dorf.“
„Wohin sonst?“
„Ich möchte Sie lieber nach der Mühle fahren.“
„Mein Gott! Zu diesen beiden Menschen? Warum? Ich begreife das nicht.“
„Um sie vor Ihren Augen zu bestrafen. Und außerdem habe ich noch einen besonderen Grund, mir das Innere dieser Mühle einmal anzusehen.“
„Aber, Monsieur, welche Gefahr für uns!“
„Nicht die mindeste! Oder haben Sie kein Vertrauen zu mir?“
„Gewiß vertrauen wir Ihnen. Sie sind stark, mutig und treu!“
„Und vorsichtig!“ fügte er hinzu. „Ich werde Sie ganz gewiß nicht einer Gefahr aussetzen, welcher ich nicht zu begegnen vermag.“
„Davon sind wir überzeugt. Aber die einsame Mühle. Und diese beiden Menschen dort.“
„Sollen sie nicht bestraft werden?“
„Eigentlich, ja. Was sagst du dazu, Madelon?“
„Ich würde ihnen eine Strafe gönnen.“
„Du hast also Mut, mit hinzufahren?“
„Ja, da Herr Schneeberg uns versichert, daß er uns schützen werde.“
„Aber was wird dort geschehen? Was haben wir zu tun?“
„Ich werde“, antwortete Fritz, „die Rolle des instruierten Kutschers spielen. Ich fahre bei der Mühle vor und tue so, als ob wir uns verirrt haben. Man wird uns im Dunkeln öffnen und dann hinter uns die Tür verschließen.“
„Dann sind wir gefangen.“
„Das ist mir lieb. Man wird Sie sodann nach der Schreibstube Ihre Bruders bringen.“
„Uns allein? Ohne Sie?“
„Allerdings; aber Sie stehen trotzdem unter meinem Schutz. Haben Sie bereits einmal einen Revolver in der Hand gehabt?“
„Ja“, antworteten beide.
„Hier sind zwei; stecken Sie dieselben zu sich, um sie im Notfall zu gebrauchen. Schießen Sie in Gottes Namen jeden nieder, der Sie nicht mit Achtung behandelt. Ich werde die Folgen auf mich nehmen.“
„Einen Menschen erschießen!“ sagte Madelon schaudernd.
„Oh, soweit wird es gar nicht kommen. Wenn diese beiden Kerle die Waffen sehen, werden sie den Mut verlieren. Diese Sorte von Menschen pflegen Feiglinge zu sein. Wo liegt die Schreibstube? Sie haben ja hier gewohnt. Sie werden es wissen.“
„Entgegengesetzt der Durchfahrt. Sie werden also nicht in unserer Nähe sein?“
„Haben Sie keine Sorge. Ich werde auf jeden Fall bei Ihnen sein, sobald Sie meiner bedürfen. Also, wollen Sie sich mir anvertrauen?“
Sie zögerten mit der Antwort. Dann fragte Nanon:
„Also Sie geben uns Ihr Wort, daß Sie uns beschützen werden?“
„Mein festes Wort. Es soll Ihnen kein Mensch ein Haar krümmen.“
„Nun, so fahre ich sogar gern mit, um diesen beiden Menschen zu sagen, wie sehr ich sie verachte. Die Gefahr scheint mir allerdings nicht sehr groß, seit wir die Revolver haben. Brechen wir also auf, Monsieur Schneeberg.“