Sie setzen Ihren Weg fort. Das Stöhnen aber hatte der gefesselte Kutscher verursacht, welcher mit Anwendung seiner ganzen Kraft daran arbeitete, sich aus seiner Lage zu befreien.
In der Pulvermühle angekommen, zu welcher Berteu den Schlüssel bei sich führte, begaben sie sich sogleich nach der Schreibstube, wo sie die dort vorhandene Lampe anzündeten und sodann die Flaschen und Gläser auf den Tisch stellten. Der Raum war nicht groß und recht behaglich eingerichtet.
„Nicht übel hier“, meinte Ribeau mit einem zynischen Lächeln. „Zwei solche Zimmer aber wären besser.“
„Wegen Trennung der Paare?“
„Gewiß! Nicht?“
„Pah! Zwei Freunde und zwei Schwestern! Laß uns zunächst eine Zigarre anbrennen.“
„In einer Pulvermühle?“
„Es ist jetzt keine Gefahr vorhanden. Die Vorräte sind in dem Keller aufbewahrt, und in den oberen Räumen gibt es keine gefährlichen Stoffe.“
Er öffnete das Schreibpult, in welchem sich auch die Zigarren befanden, und nachdem sie sich je eine angesteckt hatten, nahmen sie nebeneinander Platz.
„Ich bin wirklich ungeheuer gespannt auf die erstaunten und betroffenen Gesichter, welche wir sehen werden“, meinte Berteu.
„Wir müssen den ersten Schreck benutzen. Der Schreck lähmt den Widerstand. Ich wette, daß Madelon von mir zehn Küsse erhalten hat, ehe sie nur zu Worte kommt.“
„Vielleicht geht es anders, als du denkst.“
„Wie anders soll es gehen? Sie werden erst zürnen, dann bitten und zuletzt die liebevollsten Damen sein. Horch!“
„Das ist der Kutscher mit der Peitsche.“
„Gehen wir!“
Sie begaben sich nach der Einfahrt, wo Ribeau die Unterredung mit dem Kutscher führte. Nachdem die Schwestern ausgestiegen waren, geleiteten sie dieselben durch den dunklen Mühlenraum nach der Schreibstube.
Berteu öffnete dieselbe und die beiden Damen traten ein, die Männer hinter ihnen. Die letzteren hatten sich eingebildet, nun die verworrensten Ausrufe des Schreckens und der Angst zu hören; darum waren sie nicht wenig erstaunt, als die Mädchen wortlos nach dem kleinen Sofa schritten und sich nebeneinander auf demselben niederließen.
Dies war eine gute Berechnung. Sie hatten da die eine Wand im Rücken, die andere an der Seite und den Tisch vor sich.
Berteu blickte Ribeau an und dieser ihn. Einer geradeso verwundert wie der andere. Sie vergaßen ganz, sich den beiden Damen zu nähern. Endlich sagte Berteu:
„Donnerwetter, ihr seid es? Wer hätte das gedacht! Aber sagt doch nur, wie ihr euch verirren konntet?“
„Und zwar nach rückwärts verirren?“ fügte Ribeau hinzu.
„Die Schuld liegt jedenfalls beim Kutscher“, antwortete Nanon.
„So habt ihr euch einen sehr dummen Menschen gemietet.“
„Oder du hast uns einen sehr verschlagenen Kerl auf den Bock gesetzt!“
Er lachte laut auf.
„Denkst du?“ fragte er.
„Ja, das denke ich! Entweder sehr verschlagen oder sehr stupid!“
„Jedenfalls das erstere!“
„Ich denke vielmehr das letztere.“
„Was kann das Leugnen nützen? Wäre er stupid, so hätte er meine Befehle nicht so gut ausgeführt. Wir wollten euch für einige Stunden hier bei uns sehen. Nun können wir es euch erzählen, wie wir das angefangen haben. Natürlich aber nehmen wir bei euch Platz. Ich hoffe, daß ihr nichts dagegen habt.“
Er schickte sich an, den Tisch zur Seite zu schieben.
„Nein“, antwortete Nanon, „vorausgesetzt, daß ihr auch nichts hiergegen habt!“
Sie zog dabei ihren Revolver hervor, und Madelon tat dasselbe.
„Alle Teufel!“ rief Berteu. „Sie sind bewaffnet!“
„Das habt ihr nicht erwartet, nicht wahr? Ich sage euch, daß wir den, der uns anzurühren wagt, niederschießen werden!“
„Unsinn! Wo habt ihr diese Waffen her? Ihr hattet sie doch am Tag nicht.“
„Leuten eures Schlages gegenüber muß man stets bewaffnet sein!“
„Aber“, bemerkte Ribeau, „man muß auch verstehen, mit den Waffen umzugehen.“
Er schien ein gewandter Turner zu sein. Ein rascher Schritt an den Tisch, und sich schnell überbiegend, hatte er mit einem kühnen Griffe seiner Hände die beiden Revolver gepackt und den schwachen Frauenhänden entrissen. Ein zweistimmiger Schreckensschrei erscholl. Die beiden Männer lachten.
„So“, sagte Ribeau, „jetzt sind wir die Herren der Situation und werden unsere Gesetze vorschreiben.“
„Noch nicht!“
Diese beiden Worte wurden hinter ihm gesprochen. Er wollte sich umdrehen, kam aber nicht dazu, denn ein gewaltiger Faustschlag sauste auf seinen Kopf herab, so daß er wie ein Klotz zu Boden fiel. Berteu fuhr zurück, er glaubte seinen eigenen Kutscher vor sich zu haben.
„Mensch! Schurke!“ rief er. „Was fällt dir ein? Ich jage dich auf der Stelle aus –“
Er sprach nicht weiter, denn ein ebensolcher Faustschlag hatte ihn getroffen, so daß er nun neben seinem Kumpan auf der Diele lag. Jetzt erst legte Fritz den Hut und den Mantel ab.
„So!“ sagte er. „Diese beiden Messieurs werden einige Zeit lang kein Wort mehr reden. Ich kenne meinen Hieb. Zunächst wollen wir einmal von dieser Sorte kosten!“
Er öffnete eine der Flaschen, goß sich ein Glas voll ein und trank es aus. Dann hob er die beiden Revolver auf, welche Ribeau entfallen waren.
„Wie gut, daß sie kamen!“ sagte Nanon. „Wir waren nun ohne Waffen. Was tun wir jetzt? Am besten wird es sein, daß wir uns sofort entfernen.“
„Ich bitte, doch noch ein wenig zu warten“, sagte Fritz dann.
Er öffnete das Pult und blickte hinein. Zunächst zog er ein Paket starker Bindfäden hervor, mit welchem er die beiden besinnungslosen Franzosen band. Dann legte er sie so, daß sie, selbst wenn sie erwachen würden, nicht sehen konnten, was im Zimmer vorging.
Nun untersuchte er den Inhalt des Pultes sorgfältig. Dabei nahm sein Gesicht den Ausdruck steigender Genugtuung an. Madelon wußte, daß er preußischer Wachtmeister war; sie kannte also auch den Grund, weshalb er diese Bücher und Papiere so genau durchsuchte. Nanon hatte aber keine Ahnung davon. Sie war ganz erstaunt über das Interesse, welches er für diese Skripturen zeigte.
„Interessieren Sie sich so sehr für die Pulverfabrikation?“ fragte sie.
„Nein, aber desto mehr für die Handschriften, welche ich hier finde. Ist Ihnen diese Unterschrift bekannt?“
Er legte ihr einige Briefe hin.
„Ah, der alte Kapitän!“ sagte sie.
„Und hier?“
„Graf Rallion.“
„Diese Sachen interessieren mich so, daß ich wünsche, eine Abschrift von ihnen zu haben. Ich werde Ihre Geduld nicht lange auf die Probe stellen.“
Er nahm Bleistift und Papier und begann zu schreiben. Nanon wunderte sich schier über die Umsicht, welche dieser Pflanzensammler besaß. Es war eine eigentümliche Situation: Dort die beiden Gefesselten, denen die Besinnung noch nicht zurückgekehrt war; hier die beiden Mädchen, soeben aus einer großen Gefahr errettet und an diesem greulichen Ort dem schreibenden Kräutermann mit einer Ruhe zusehend, als wenn sie sich in bester Sicherheit befänden.
„So!“ sagte Fritz nach einiger Zeit. „Jetzt bin ich fertig, und wir können aufbrechen.“
Er steckte die Abschriften zu sich und brachte die Originale wieder an Ort und Stelle. Eben wollte er sein Licht anstecken, um dann die Lampe verlöschen zu können, als er aufhorchte.
„Man klopft!“ sagte Nanon.
„Das ist kein Klopfen“, meinte Fritz. „Man hämmert förmlich gegen die Tür. Und da, dieses Rufen! Ich glaube gar, man belagert uns. Sollte es dem Kutscher gelungen sein, sich zu befreien und die Gäste zu alarmieren?“
„Das kann uns nichts schaden!“ meinte Nanon. „Öffnen wir!“
Aber Madelon verstand die Situation besser. Fritz befand sich in größter Gefahr.