„Das weiß ich noch nicht.“
„Wie? Das ist doch unmöglich.“
„Ich werde jemand dort treffen.“
„Wohl auch eine Dame, he?“
„Natürlich!“
„Unverbesserlicher Mädchenjäger! Aber du, nimm dich dort in acht, damit du keinen Fehler begehst.“
„Wieso?“
„Es sind dort zwei Eclaireurs. Solltest du zufällig einen erkennen, so verrate dich nicht.“
„Wer sind sie?“
„Der Ulanenrittmeister Königsau.“
„Sapperment! Ein tüchtiger Offizier.“
„Und sein Wachtmeister Schneeberg.“
„Kenne ich nicht. Woher weißt du das?“
„Wir haben es erst gestern erfahren.“
„Wo ist Herr von Hohenthal?“
„In Metz. Wir müssen uns diesen Waffenplatz ein wenig genauer betrachten.“
„Aber warum kamst du da nach Malineau?“
„Hm! Die Umgegend von Metz ist doch auch von einiger Wichtigkeit. Wo wohnst du hier?“
„Da drüben beim Verwalter, dessen Bilder ich auch repariere. Willst du mit?“
„Danke!“
„Oder trinken wir ein Glas Wein in der Schenke?“
„Meinetwegen! Aber nimm dich in acht, daß kein Mensch Verdacht faßt.“
„Pah! Ich bin kein Esel. Komm.“ –
Am anderen Morgen befand Schneffke sich wieder bei dem Beschließer Melac. Er hatte Pastellstifte mitgenommen und erhielt einen schönen Platz am Fenster. Er mußte natürlich das Glas entfernen und das Bild aus dem Rahmen nehmen. Als er das tat, sahen Marie und ihre Großeltern zu.
Er trennte zunächst die Rückwand los. Kaum war dies geschehen, so fiel sein Auge auf ein großformatiges Briefkuvert, welches zwischen der Wand und dem Bild steckte.
„Ein Brief“, sagte er erstaunt. „An wen?“
Er las die Adresse: „Herrn Beschließer Melac.“
„An mich?“ fragte der Genannte. „Mein Gott, sollte es sich um das Geheimnis handeln, von welchem wir gestern gesprochen haben, Monsieur?“
„Vielleicht. Hier, nehmen Sie.“
Die vier Personen befanden sich natürlich in allergrößter Spannung. Melac öffnete das Kuvert. Es enthielt mehrere Papiere, welche er auseinanderfaltete.
„Das Geburtszeugnis eines Kindes, eines Mädchens namens Nanon de Bas-Montagne.“
„Himmel!“ sagte seine Frau. „Das gilt unserer Nanon.“
„Und hier ein zweites auf den Namen Madelon de Bas-Montagne. Ja, es gilt den beiden Schwestern. Und hier ist der Trauschein der Eltern: Baron Gaston de Bas-Montagne und Amély, geborene Renard.“
Die Beschließerin schlug die Hände zusammen und rief:
„Das ist es, wovon die Sterbende mit dir sprechen wollte.“
„Ja. Hier ist eine Quittung über 15.000 Franks, welche sie dem Verwalter Berteu geborgt hatte. Ah, ich habe mir gedacht, daß die beiden Mädchen nicht ohne Geld sein würden. Ihre Mutter mußte doch von etwas leben. Das Geld ist nicht zurückgezahlt worden, denn hier ist die Schuldverschreibung. Das werde ich zu ordnen haben.“
„Fünfzehntausend Franks!“ sagte seine Frau. „Der Berteu kann nicht fünfzehnhundert zurückgeben.“
„Wir werden sehen. Und hier zuletzt ein Brief, welcher an mich adressiert ist.“
Dieser Brief, welchen er erst für sich durchflog und dann laut vorlas, hatte folgenden Inhalt:
„Mein guter Herr Melac.
Wenn diese Zeilen in Ihre Hand gelangen, bin ich nicht mehr. Ich habe dann dieses Land verlassen, in welchem ich zuerst so große Liebe und dann so bittere Enttäuschung fand. Ich übergebe Ihnen meine beiden Töchter. Seien Sie Ihnen Vormund, Freund und Vater. Beide wissen nicht, wer ihre Eltern eigentlich sind. Ob sie es einst erfahren sollen, stelle ich ganz Ihrer Klugheit und Einsicht anheim.
Die dokumentalen Unterlagen erhalten Sie hiermit; aber vielleicht ist es besser, sie erfahren nie, daß ihr Vater ein Baron ist. Lassen Sie sich von dem Verwalter das Geld geben, damit es die Kinder bekommen. Von den Zinsen habe ich bisher leben müssen.
Was soll ich noch sagen! Sie sind ein Ehrenmann und mein Freund. Sie werden tun und beschließen, was zum Besten meiner Kinder ist, deren Vater und Großvater verschollen sind.
Ich segne Nanon und Madelon. Mein letzter Gedanke wird ihnen gelten, und wenn ich bei Gott bin, der die Liebe ist, werde ich ohne Aufhören für sie beten und auch für Sie, dem ich ja anders nicht mehr zu danken vermag.
Amély de Bas-Montagne.“
Als diese Zeilen vorgelesen waren, entstand eine minutenlange Pause. Die vier Personen waren tief ergriffen. Endlich nahm der Schließer das Wort:
„Also Vormund sollte ich sein, ich, aber nicht der Verwalter. Warum blieb ihr nicht Zeit, uns zu sagen, wohin sie diese Dokumente gesteckt hatte.“
„Ja, nun ist alles so ganz anders gekommen“, meinte seine Frau, welcher die Tränen in den Augen standen. „Wirst du den beiden Mädchen sagen, was sie eigentlich sind?“
„Das muß man noch überlegen.“
„Und hier“, sagte der Maler, welcher die Rückseite des Bildes betrachtet hatte, „hier steht der Name ‚Baron Gaston de Bas-Montagne‘. Sollte er es sein?“
„Natürlich ist es das Bild des Vaters der beiden Mädchen“, meinte der Beschließer. „Ihre Mutter hat es mit sich genommen. Warum aber ist sie von ihm fortgegangen?“
„Ihr Schwiegervater hat sie gezwungen.“
Da blickte der Beschließer den Maler erstaunt an.
„Der Schwiegervater?“ fragte er. „Gezwungen? Woher wollen Sie denn das wissen? Sie sind ja hier fremd. Sie haben die arme Dame nie gekannt und gesehen.“
„Das ist wahr. Aber ich habe diesen Schwiegervater gesehen.“
„Ah! Das wäre –“
„Und ich kenne ihn vielleicht heute noch.“
„Dann glaube ich noch an Wunder.“
„Ja, der liebe Gott hat die Schicksale aller Menschenkinder in seiner Hand. Ich will Ihnen sagen, daß ich dieser Angelegenheit wegen nach Malineau gekommen bin.“
Dieses Geständnis brachte eine große Wirkung hervor.
„Dieser Angelegenheit wegen?“ fragte Melac. „So war sie Ihnen bekannt?“
„Nein, sondern im Gegenteil sehr unbekannt.“
„Sie widersprechen sich.“
„Auch das nicht. Nach dem, was ich über Sie weiß, bin ich überzeugt, daß ich mich Ihnen anvertrauen kann. In Berlin lebt ein alter, reicher Sonderling, welcher sich Untersberg nennt. Sie verstehen Deutsch. Wie würden Sie diesen Namen in das Französische übersetzen?“
„Ich würde sagen – Unters – Bas-Montagne; ah, was ist das? Sollte zwischen diesem Untersberg und der Familie Bas-Montagne irgendeine Beziehung bestehen?“
„Ganz gewiß. Ich kenne diesen Herrn. Der junge Berteu hat ihm telegrafiert, daß sein Vater gestorben sei.“
„So stand er mit Berteu in Verkehr?“
„Wie es scheint. Er ist alt und schwach; er kann also nicht selbst reisen. Ich bin der einzige, mit dem er verkehrt, und er gab mir den Auftrag, nach Malineau zu gehen und auszukundschaften, ob der alte Berteu vor seinem Tod seinem Sohn ein Geheimnis mitgeteilt habe.“
„Welches Geheimnis?“
„Das wußte ich nicht; nun aber haben wir es ja erfahren. Das Geheimnis, wer die beiden Mädchen sind.“
„Ich begreife immer noch nicht –“
„Nun, dieser Untersberg ist der Großvater der Mädchen.“
„Ah! Mag er denn nichts von ihnen wissen?“
„Nein. Sie sollen nie erfahren, wer sie sind. Ihre Mutter war eine Deutsche, eine Bürgerliche, keine Katholikin. Sein Sohn sollte sie nicht heiraten, und als er dies trotzdem tat, wußte der Alte es soweit zu bringen, daß sie ihre Kinder nahm und verschwand.“
„Mein, Gott. Das ist ja ein ganzer Roman.“
„Aber ein sehr trauriger.“
„Sie hat also ihren Mann verlassen und ist zu uns gekommen.“
„So ist es.“
„Aber dieser, ihr Mann, hat er das geduldet?“