„Sie ging heimlich, als er verreist war. Als er zurückkehrte, war sie verschwunden.“
„Hat er denn nicht gesucht?“
„O ja! Aber sein Vater hat ihn belogen und gesagt, sie sei ihm untreu geworden und mit einem andern davongegangen.“
„Welch eine Schlechtigkeit.“
„Er hat dann nach ihr gesucht und ist ebenso verschwunden wie sie. Sein Vater hat Frankreich verlassen und seinen Namen verändert. Weshalb, kann ich nicht sagen.“
„Aber woher wissen Sie das alles?“
„Ich vermute das meiste; einiges aber weiß ich ganz genau.“
Er glaubte das von den Kolibribildern, und was damit zusammenhing, noch verschweigen zu müssen.
„Aber Sie wissen genau, daß jener alte Untersberg der Großvater der Mädchen ist?“
„Ich würde es beschwören.“
„So muß er sie anerkennen!“
„Das wird er nicht tun.“
„Ich zwinge ihn.“
„Wie wollen Sie das anfangen?“
„Ich lege diese Dokumente vor.“
„Damit erreichen Sie doch nichts.“
„Beweisen sie etwa nicht, daß er der Großvater von Nanon und Madelon ist?“
„Das Gericht verlangt Beweise, Behauptungen genügen nicht.“
„Nun, wird es denn nicht möglich sein, ihm zu beweisen, daß er der Baron de Bas-Montagne ist.“
„Vielleicht gelingt es mir.“
„Gut! So haben wir gewonnen.“
„Noch gar nichts! Beweisen Sir mir, daß diese Frau Charbonnier wirklich die Baronin de Bas-Montagne war.“
„Warum sollte sie es nicht sein?“
„Und das Nanon und Madelon wirklich die Kinder des Barons Gaston sind.“
„Aber ich begreife Sie nicht.“
„Und außerdem gibt es noch weitere Lücken, welche ausgefüllt werden müßten. Man darf da nicht so sehr sanguinisch denken!“
„So sagen Sie uns, was wir tun sollen.“
„Überzeugen wir uns zunächst, ob wir selbst recht haben oder unrecht. Sehen wir einmal, ob die Frau Charbonnier die Baronin de Bas-Montagne ist.“
„Wie wollen wir das anfangen?“
„Sehr einfach. Sie haben Madame Charbonnier gekannt?“
„Ja, natürlich.“
„Bitte, sie mir zu beschreiben.“
„Es war eine sehr schöne Dame, klein, schmächtig, mit Prachtaugen und herrlichem Haar.“
„Hm! Ich habe das Bildnis der Baronin gesehen. Wollen doch einmal vergleichen.“
Er hatte seine Mappe mit. Er nahm aus derselben ein Blatt Zeichenpapier und griff zum Bleistift. Er schloß die Augen, um sich die Züge jenes Porträts zu vergegenwärtigen, welches er hinter dem Kolibribild gefunden hatte, und als ihm dies gelungen war, warf er den Kopf mit bewundernswerter Leichtigkeit auf das Papier.
„So“, sagte er, „sehen Sie her! Ist sie es?“
Die beiden Alten stießen einen Ruf des Erstaunens aus.
„Das ist sie; ja, das ist sie!“ beteuerten sie.
„Gut, sehr gut! Ich bin meiner Sache nun schon gewiß. Diese Mädchen haben eine ungemeine Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Aber man muß dennoch bedächtig verfahren. Ich denke, Sie verschweigen ihnen zunächst noch, wer sie sind.“
„Aber etwas muß man doch tun!“
„Gewiß! Ich gehe von hier nach Ortry.“
„Zu Nanon?“
„Ja. Madelon befindet sich bei ihr. Mit dieser kehre ich nach Berlin zurück. Wer weiß, was unterwegs sich findet und herausstellt. In Berlin gehe ich sofort zu dem Alten.“
„Um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu bekennen?“
„Das kann ich noch nicht sagen. Ich werde Ihnen schreiben. Wir müssen Hand in Hand gehen.“
„Das versteht sich! Monsieur Schneffka, wie gut ist es, daß wir Sie kennengelernt haben. Und wunderbar, Sie, ein Pole, kommen her zu uns und –“
Er stockte. Es kam ihm ein Gedanke. Dann fuhr er fort.
„Monsieur, seien Sie aufrichtig. Sie sind keine Pole!“
„Was soll ich sonst sein? Ein Buschneger?“
„Ein Deutscher. Gestehen Sie es!“
Da trat Marie näher, legte die Hand auf seinen Arm und sagte: „Wirklich? Sollten Sie ein Deutscher sein?“
„Mademoiselle, Sie hassen ja die Deutschen.“
„Was denken Sie! Ich habe Ihnen ja im Gegenteil gesagt, daß wir uns sehr für Deutschland interessieren.“
„Nun gut! So will ich es gestehen, daß ich ein Deutscher bin!“
Da streckten ihm alle drei die Hände entgegen, und Melac fragte:
„Warum haben Sie das verschwiegen?“
„Aus Vorsicht. Die hiesige Bevölkerung spricht von einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland.“
„Glauben Sie an dieses Gerücht?“
„So ziemlich.“
„So wünsche ich von ganzem Herzen Deutschland den Sieg. Möge Preußen kommen und Elsaß und Lothringen nehmen, damit das Unrecht früherer Zeiten gesühnt werde. Herr, nun sind Sie mir doppelt willkommen. Ihr Name wird nun wohl auch anders lauten?“
„Nicht viel anders: Schneffke anstatt Schneffka, Hieronymus Aurelius Schneffke; das ist so sicher wie Pudding.“
„Aber lassen Sie das Berteu ja nicht wissen!“
„Fällt mir ganz und gar nicht ein! Also Sie meinen, daß er von seinem Vater nichts erfahren hat?“
„Wenigstens kurz vor dem Tod nicht, da der Verwalter ganz plötzlich gestorben ist.“
„So könnte er es von früher her wissen!“
„Ja, und das scheint mir sogar sehr wahrscheinlich zu sein.“
„Wieso?“
„Es hat sich am Begräbnistag seines Vaters etwas ereignet, was mir zu denken gibt.“
„Erzählen Sie es mir, damit ich denken kann.“
„Er hat die Schwestern abends in die Pulvermühle gelockt, um Nanon in seine Gewalt zu bekommen.“
„Liebt er sie denn?“
„Wer weiß das?“
„Will er sie heiraten?“
„Man sagt es. Er weiß, daß das Mädchen wohl eine Zukunft hat. Er will an der letzteren teilnehmen, indem er Nanon zu seiner Frau macht.“
„Aber sie will ihn nicht!“
„Um keinen Preis. Daher hat er sie in die Falle gelockt.“
„Ein gottloser Mensch. Donnerwetter! Der sollte mir vor die Zündnadel kommen, wenn ich im Fall eines Krieges 'mal nach Malineau käme. Dann würde – Sapperment!“
Er bemerkte erst jetzt, daß er unvorsichtig gewesen sei. Melac aber beruhigte ihn, indem er sagte:
„Erschrecken Sie nicht. Sie sind nicht bei schlechten Menschen. Aber, wie ich höre, sind Sie also auch Soldat?“
„Landwehrsoldat.“
Da trat ein Lächeln auf die ernsten Züge des ehrwürdigen Mannes. Er sah den Maler vom Kopf bis zum Fuß herab an und fragte dann: „Sind die preußischen Landwehrleute alle so wohlgepflegt wie Sie, Monsieur?“
„Alle! Das Kommißbrot wirkt Wunder. Sie sehen ein: Kommt ein Bataillon solcher Kerls ins Laufen, so rennt es eine ganze französische Armee über den Haufen. Lassen Sie es also in Gottes Namen losgehen. Sie werden Ihr blaues Wunder sehen! Nun aber wollen wir das Porträt vornehmen, sonst wird es nicht fertig.“
Der Maler begann nun an dem Bild zu arbeiten. Die drei sahen zu und konnten sich nicht genug über seine Kunstfertigkeit wundern. Dabei wurde die Unterhaltung keineswegs ausgesetzt, und so kam es, daß, als er abends Abschied nahm, sie einander so nahegerückt waren, als ob er bereits seit Jahren in dieser Familie verkehrt habe.
Berteu behandelte ihn mit finsterer Miene.
„Ich habe Sie während des ganzen Tages nicht gesehen“, sagte er.
„Ich war nicht daheim.“
„Darf ich fragen, wo Sie gewesen sind?“
„Drüben im Schloß.“
„Im Schloß? Da wohnt doch nur der Beschließer. Sind Sie etwa bei dem gewesen?“
„Ja; gerade komme ich von ihm.“
„Monsieur, was fällt Ihnen ein?“
Der Dicke machte ein sehr erstauntes Gesicht und sagte:
„Was ist das für ein Ton? Wie kommen Sie mir vor?“
„Können Sie sich das nicht selbst erklären? Wissen Sie nicht, daß Sie mein Gast sind?“