„Dummkopf!“
„Wer? Ich?“
„Nein, der Tote.“
„Ach so! Na, fort müssen wir auf alle Fälle. Jetzt werde ich mich dieser Nanon versichern. Ich denke, daß uns dann geholfen ist.“
„Die bekommst du nicht.“
„Pah! Es gibt ein Mittel. Ich kenne einen Mann, der sie mir in die Hand geben wird.“
„Wer ist das?“
„Das ist nichts für dich! Jetzt will ich zum General!“
Er begab sich, eine Menge Bücher tragend, nach dem Schloß, von wo er erst nach längerer Zeit zurückkehrte. Sein Gesicht war finster.
„Wie ist es gegangen?“ fragte seine Mutter.
„Schlecht.“
„So hat er es bereits berechnet?“
„Nein. Den Verlust wird er erst später finden. Aber er empfing mich bereits in einer Weise, aus welcher ich ersah, daß es auch ohne dieses Defizit für uns aus sein würde. Ich mache, daß ich fort komme.“
„Um Gottes willen! Und mich läßt du da?“
„Nein. In einigen Tagen bin ich zurück, um dich abzuholen.“
„Wohin gehst du?“
„Nach Ortry.“
„Ah, zum Kapitän? Der muß sich unserer annehmen.“
„Muß? Der ist unberechenbar!“
„Er hat dem Vater viel zu verdanken!“
„Glaubst du, daß dieser Mann dankbar ist?“
„Er ist es eigentlich gewesen, der den Vater auf Abwege gebraucht hat. Er darf uns nicht fallenlassen.“
„Moralisch zwingen läßt der Alte sich nicht. Aber ich habe Geheimnisse von ihm in der Hand, die er mir abkaufen muß. Er muß sie mir bezahlen, entweder bar oder mit – Nanon; darauf kannst du dich verlassen!“ – – –
Am Nachmittage des Eisenbahnunglücks saß Doktor Müller im Garten von Ortry auf einer Bank, in tiefes Sinnen versunken, aus welchem er erst erwachte, als er Schritte vernahm, welche sich von der Seite her näherten. Er blickte auf und erkannte Deep-hill, den Amerikaner. Er erhob sich höflich und verbeugte sich, um ihn vorüberzulassen; dieser aber blieb stehen.
„Wir sahen uns bereits heute?“ fragte er, indem er den Hut zog.
„Ja, Monsieur.“
„Auf dem Unglücksplatz?“
„Ja. Ich hatte die Ehre, die Aufopferung zu bewundern, mit welchem Sie für die Verunglückten tätig waren. Ich heiße Müller und bin Erzieher des jungen Barons.“
„Meinen Namen kennen Sie?“
„Ja, Monsieur.“
„Erlauben Sie, für einige Augenblicke bei Ihnen Platz zu nehmen?“
Nichts konnte dem Erzieher lieber sein. Er verbeugte sich und antwortete:
„Sie haben zu befehlen!“
„O nein“, lächelte der andere. „Die kontinentale Anschauung, daß der Erzieher gesellschaftlich unter demjenigen steht, der ihn engagiert hat, ist uns Amerikanern nicht geläufig.“
„Amerika ist zu beneiden. Es ist ein Land, welches mit den schädlichen und lächerlichen Standesvorurteilen aufgeräumt hat.“
„Gott sei Dank, daß es so ist. Ein Mann, dem ich die Erziehung, also das Glück und die Zukunft meiner Kinder anvertraue, entweder weil ich keine Zeit zu dieser Erziehung habe, oder weil mir die Fähigkeiten dazu mangeln, dieser Mann kann doch unmöglich unter mir stehen.“
„Wollte Gott, auch andere vermöchten sich zu dieser richtigen Anschauung zu erheben!“
„Dieser Seufzer läßt mich vermuten, daß Sie in Ihrer Stellung hier sich nicht ganz glücklich fühlen?“
„Ich bin zufrieden“, antwortete Müller zurückhaltend.
„Was nennen Sie zufrieden? Zufrieden ist gar nichts; Zufriedenheit ist ein Mittelding, weder warm noch kalt, weder jung noch alt, weder arm noch reich!“
„Und doch trachten Millionen danach, nur zufrieden sein zu können.“
„Sie werden es niemals sein, weil sie es niemals sein können, weil die Ansprüche des Menschen mit seinen Erfolgen wachsen.“
„Sie sprechen von Ehrgeizigen.“
„O nein!“
„Und von Ungenügsamen.“
„Sie scheinen genügsam!“
„Mein Lebensweg ist mir vorgeschrieben. Ich tue meine Pflicht und vertraue auf Gott.“
Der Amerikaner blickte ihm forschend in das Auge.
„Herr, ist das Ihr Ernst?“ fragte er.
„Warum nicht?“
„So sind sie – ah, ja, Sie nannten sich Müller?“
„So ist mein Name.“
„So sind Sie ein Deutscher?“
„Ja.“
„Nur ein Deutscher kann so sprechen wie Sie. Nur ein Deutscher tut seine Pflicht und vertraut auf Gott. Was macht Gott aus Ihnen, wenn Sie sich nicht selbst rühren?“
„Ich rühre mich ja, wenn ich meine Pflicht tue!“
„Sie rühren sich, aber Sie streben nicht. Sie sind Erzieher; Sie werden unter Umständen Erzieher bleiben, obgleich Sie vielleicht das Zeug haben, Professor zu werden.“
Müller lächelte leise vor sich hin und antwortete:
„Haben Sie keine Sorge um uns Deutsche. Wir streben auch.“
„Wonach aber? Nach Idealen?“
„Das Ideale macht oft glücklicher als das Materielle!“
„Und doch – ja, nehmen Sie mir es nicht Übel – ich hasse diese idealen Deutschen!“
„Alle?“
„Alle! Sie haben mich um mein Ideal gebracht. Wohin werden sie gelangen? Wohin trachten sie? Wissen Sie es? Können Sie es mir sagen?“
„Von welchem Feld sprechen Sie?“
„Zunächst von der Politik.“
„Davon verstehe ich nichts.“
„Das dachte ich mir. Diese Herren Erzieher sind überall zu Hause, nur in der Politik nicht, während jeder Angehörige einer anderen Nationalität es sich angelegen sein läßt, in dieser Beziehung etwas zu leisten.“
„Hm! Es ist auch danach!“
Die Augen des Amerikaners blitzten.
„Herr, wollen Sie mich beleidigen?“ fragte er.
Es war ein eigentümlicher, übermächtiger Blick, welchen der Erzieher ihm zuwarf.
„Beleidigen?“ fragte Müller. „Wie kommen Sie zu dieser eigentümlichen Ansicht?“
„Weil Sie mir widersprechen.“
„Ist ein einfacher Widerspruch eine Beleidigung?“
„Es klang so!“
„Monsieur, Sie sind kein Amerikaner.“
„Was sonst?“
„Ein Franzose. Und zwar ein Südfranzose, wohl gar ein Korse.“
„Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“
„Infolge Ihrer Gesichtszüge und Ihres hitzigen Temperaments. Sie erklären es für eine Beleidigung, daß ich mir erlaube, eine andere Ansicht als die Ihrige zu hegen und hatten mich doch selbst bereits vorher auf das empfindlichste, auf das tiefste beleidigt.“
„Donner! Wieso?“
„Indem Sie mir, dem Deutschen, in das Gesicht sagten, daß Sie die Deutschen hassen, alle, ohne Ausnahme.“
„Man darf die Wahrheit sagen.“
„Wenn sie nicht beleidigend ist, im anderen Fall verschweigt man sie, und wäre es auch nur aus reiner Höflichkeit oder aus wohlangebrachter Vorsicht.“
„Vorsicht? Meinen Sie, daß eine Offenheit wie die meinige Schaden bringen könnte?“
„Gewiß!“
„Wer will mir schaden?“
„Jeder Mann, den Sie sich zum Feind machen, kann Ihnen schaden. Ein einziger solcher aber kann Ihnen mehr schaden, als alle Ihre bedeutenden und einflußreichen Freunde Ihnen Nutzen bringen können.“
„Ah! Ist das nicht ein deutsches Sprichwort?“
„Jawohl.“
Um die Lippen des Amerikaners spielte ein eigentümliches, selbstbewußtes Lächeln. Er musterte Müller einige Augenblicke lang und sagte dann:
„Gut! Ziehen wir einen Vergleich! Ich bin reich.“
„Ich glaube es.“
„Unabhängig.“
„Höchstwahrscheinlich.“
„Einflußreich.“
„Ich gebe es zu.“
„Und Sie?“
„Hm! Ich bin das gerade Gegenteiclass="underline" arm, gebunden und ohne allen Einfluß.“
„Ich glaube Ihnen, wie Sie mir geglaubt haben. Also, ich setze den Fall, daß ich sie beleidige. Wie wollen Sie mir schaden?“