„Ja. Noch eine?“
„Und zwar eine nicht ganz unwichtige. Bei euch in Ortry hält sich nämlich ein Offizier auf, auf den ich dir raten würde ein scharfes Auge zu haben.“
„Wirklich? Das ist mir neu.“
„Ah, treffe ich da etwas, was du also doch noch nicht kennst? Ich denke, du wist dich wundern.“
„Wohl nicht. Er müßte inkognito da sein.“
„Möglich. Ich erfuhr es beim General Latreau und dann an anderer Stelle.“
„Wie heißt der Herr?“
„Lemarch.“
„Lemarch? Ah!“
„Nicht wahr, der Name ist dir unbekannt? Es ist der Sohn des Grafen Lemarch in Paris.“
„Er ist nicht in Ortry.“
„So müßte sich mein Gewährsmann sehr geirrt haben.“
„Geirrt hat er sich allerdings nicht. Lemarch war in Ortry, ist aber jetzt fort.“
„Fort? Du hast ihn gesehen?“
„Ja.“
„Beschreibe mir ihn. Er ist nämlich der Jugendverlobte einer Dame, für welche ich mich außerordentlich interessiere.“
„Hm. Auch angebissen?“
„Fürs ganze Leben.“
„An eine Verlobte?“
„Kann nichts dafür. Übrigens hoffe ich, daß diese Verlobung sich nicht zur Verheiratung entwickeln wird. Also, bitte, beschreibe mir diesen Lemarch. Ist er ein hübscher Kerl?“
„Ja.“
„Donnerwetter! Fällt er mehr in die Augen als unsereins?“
„Freilich. Er ist länger und breiter als du, wunderbar proportioniert, wie gesagt, ein hübscher Kerl.“
„Hole ihn der Teufel! Wo steckt er jetzt?“
„Bei Königsaus.“
„Bei Königsaus? Wo denn?“
„In Berlin.“
„Das seid ja ihr!“
„Allerdings, mein Lieber.“
„Mensch, erkläre dich!“
„Nun, Graf Rallion hat ihn nach Paris geschickt, um über unsere kriegerischen Krankheiten nach Paris zu berichten. Er ist inkognito dort, als ein Maler Haller aus Stuttgart.“
„So spricht er deutsch?“
„Sehr gut.“
„Hast du wohl selbst mit ihm gesprochen?“
„Ja. Er hatte großes Vertrauen zu mir und fragte mich nach dem Ulanenrittmeister Richard von Königsau.“
„Also nach dir selbst?“
„Ja.“
„Das ist klassisch.“
„Mir kam es mehr modern vor. Rallion scheint nämlich zu wissen, daß man mir ein gewisses Vertrauen schenkt und daß man bei mir verschiedene Sekrete erfahren könnte, wenn ich plaudern wollte. Darum hat er diesen Lemarch direkt an mich adressiert.“
„Und im Falle du nicht zu fangen bist?“
„Soll er sich an meine Schwester wenden.“
„An Emma? Da kommt er ganz und gar an die Rechte.“
„Dieser gute Maler fragte infolgedessen, ob meine Schwester hübsch sei.“
„Alle Teufel! Er will ihr den Hof machen?“
„Er denkt, sie werde aus Liebe plaudern.“
„Wenn diese Herren Franzosen auf solche Luftziegel bauen, wird die Geschichte bald zusammenstürzen. Also Lemarch ist jetzt bei euch?“
„Zwar nicht als Gast, aber er geht als Hausfreund da ein und aus. Unterdessen schicke ich gewisse fingierte Gutachten, Pläne und andere Arbeiten hin, welche ihm Großpapa als wirkliche Sekrete lesen läßt.“
„O weh! Da wird Napoleon eine gute Meinung von uns bekommen.“
„Das soll er auch. Er mag nur lachen; später lachen wir.“
„Und Emma? Tut sie schön mit dem Maler?“
„Fällt ihr nicht ein. Sie ist sofort verreist, als er ankam und sich vorstellte.“
„Das ist brav. Ein deutsches Mädchen ist viel zu gut, selbst zum besten des Vaterlandes einem Franzosen gegenüber die Rolle der Gefallsüchtigen zu spielen. Also das war wieder nichts. Ich dachte, dir wenigstens in Numero Zwei etwas wirklich Neues zu bieten: nun aber hast du es bereits besser ausgebeutet, als ich für möglich hielt. Ich habe zwar noch ein Drittes, werde es aber doch lieber für mich behalten.“
„Heraus damit.“
„Nein. Ich will mich mit meinen alten Neuigkeiten nicht länger blamieren.“
„Vielleicht taugt es doch etwas.“
„Wohl schwerlich. Unsere Aufgaben berührt es übrigens ganz und gar nicht. Es handelt sich um eine Privatperson, für welche du gar kein Interesse haben kannst.“
„Warum nicht, wenn sie dich interessiert?“
„Nein. Ich traf den Kerl unter eigenen Verhältnissen; sein Äußeres hat sich mir eingeprägt. Letzter Tage wurde ich an ihn erinnert, indem ich von einer Tat hörte, die er ganz sicher verübt hat; es soll hier in Thionville geschehen sein. Ich dachte nur eben daran.“
„In Thionville? Was für eine Tat ist es?“
„Ein Mord.“
„Wer war der Kerl?“
„Er wurde der Bajazzo genannt.“
Da sprang Müller auf.
„Mensch! Hohenthal! Arthur! Ist es möglich? Diesen Kerl suche ich.“
„Willst du eine Seiltänzergesellschaft etablieren?“
„Keinen Scherz! Die Sache ist von allergrößter Wichtigkeit. Erinnerst du dich, daß Onkel Goldberg seine beiden Knaben abhanden gekommen sind?“
„Natürlich. Alle Welt weiß das.“
„Nun, dieser Bajazzo ist es, der sie geraubt hat.“
„Donnerwetter! Wirklich?“
„Ganz zweifellos.“
„Herrgott! Das hätte ich wissen sollen!“
„Du hast ihn gesehen?“
„Sogar mit ihm verkehrt und mit ihm gesprochen und auch – Himmelschwerebrett – auch mit ihm getrunken!“
„Wo denn?“
„In Paris.“
„Das kann ich mir denken, aber an welchem Orte?“
„Es nützt dir nichts, den Ort zu hören, er ist von der Polizei zerstört worden. Es war in der Spitzbubenkneipe des Vater Mains. Ich ging als Pseudogauner hin, um meine Studien zu machen und zu horchen. Da verkehrte er.“
„Und jetzt?“
„Fort, weg.“
„Wohin?“
„Das weiß der Teufel! Herrgott, ich könnte mich ohrfeigen, zehn Stunden lang! Das hätte ich wissen sollen. Was hat er denn hier in Thionville verbrochen?“
Müller erzählte den Mord der Seiltänzerin möglichst kurz, aber doch ausführlich genug, und daran schloß Hohenthal den Bericht seiner Erlebnisse in Paris. Er war noch im Erzählen, da kehrte Marion de Sainte-Marie aus der Stadt zurück. Neben ihr im Wagen saß – Emma von Königsau. Jene hatte nicht mit Bitten nachgelassen, bis die so schnell und herzlich liebgewonnene Freundin eingewilligt hatte, den Abend mit auf dem Schloß zuzubringen.
Sie konnten im Vorüberfahren nicht in die grünumrankte Laube blicken, während die beiden Männer deutlich sahen, wer im Wagen saß. Hohenthal sprang auf.
„Sieh, Richard, sieh!“ rief er ernsthaft aus.
„Was denn?“ fragte Müller trocken.
„Das war die Baronesse wieder.“
„Nun ja. Du bist ja ganz und gar in Ekstase.“
„Hast du denn die andere gesehen?“
„Ja.“
„Kanntest du sie?“
„Du etwa?“
„Natürlich. Mensch, das war ja deine Schwester!“
„Allerdings.“
Hohenthal machte ein Gesicht, als ob er befürchte, daß der Freund verrückt geworden sei.
„Allerdings“, ahmte er ihm ganz verblüfft nach. „Das sagst du so ruhig.“
„Allerdings“, wiederholte Müller gleichmütig.
„Die Gazelle in der Höhle des Löwen.“
„Sie steht unter meinem Schutz.“
„Kerl, du mußt bedeutend an Macht und Selbstvertrauen gewachsen sein.“
„Ja, man wächst.“
„So wachse du und der Teufel!“ rief Hohenthal ärgerlich. „Sagt mir dieser buckelige Erzieher vorhin, daß seine Schwester verreist sei, aber wohin, daß hat er verschwiegen.“
„Wozu die überflüssigen Worte? Ich ahnte, daß Marion Emma holen werde, und so verstand es sich ganz von selbst, daß du sie sehen mußtest.“
„Marion? So also heißt sie?“
„Ja, zu dienen.“