„Miß de Lissa?“
„Ja, meine Freundin“, fügte Marion hinzu.
„Aus London? Wirklich aus London?“
„Ja.“
„Verzeihung, Miß! Ich bin alt und gerade jetzt so leidend. Ich sah heute die Unglücksstelle an der Bahn und kann den schrecklichen Gedanken nicht wieder loswerden. Ich bin nervös. Ich werde mich wohl bald wieder zurückziehen müssen!“
Er aß sehr wenig. Auf dem Tisch stand nur ein leichter, weißer Moselwein.
„Der Rote wird mich vielleicht stärken!“
Mit diesen Worten erhob sich der Alte und trat an das Büffet, welches an der Wand stand. Müller ließ ein leises Räuspern hören; der Amerikaner blickte zu ihm herüber, erhielt einen Wink und verstand denselben. Beide beobachteten den Alten scharf, ohne daß es den anderen auffallen konnte. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, dabei drehte er den Anwesenden den Rücken, zu. Dabei zog er mit der Linken etwas aus der Tasche. Was er tat, war nicht zu sehen; aber aus seinen Bewegungen ließ sich vermuten, daß er etwas – jedenfalls eine Flüssigkeit – in eines der dort stehenden leeren Gläser träufeln ließ. Dann führte er die Hand zur Westentasche zurück und setzte sich wieder an seinen Platz.
Müller ließ ein leises Lächeln sehen, welches nur von dem Amerikaner bemerkt wurde. Dieser senkte bejahend den Kopf. Er erwartete nun das neue Kommando.
Der Alte hatte ausgetrunken. Er trat abermals zum Tisch und goß sich sein Glas voll, dann ein zweites, welches er dem Amerikaner präsentierte.
„Sie müssen heute verzeihen, Monsieur Deep-hill“, sagte er. „Morgen werde ich wieder au fait sein. Damit ich aber die Pflicht der Gastlichkeit nicht ganz und gar verletze, will ich mir erlauben, mit Ihnen auf ein herzliches Willkommen anzustoßen. Lassen Sie uns austrinken!“
Er trank aus. Der Amerikaner warf einen fragenden Blick auf Müller; dieser nickte heimlich und aufmunternd, und so hob auch er sein Glas zum Mund und leerte es mit einem einzigen Zug.
Nun wünschte der Alte gute Nacht und ging. Man musizierte noch ein wenig, wobei Emma einige englische Lieder vortrug. Hier nahm Deep-hill Gelegenheit, an Müller heranzutreten und zu flüstern:
„Er hatte erst etwas ins Glas gegossen!“
„Ich sah es auch.“
„Aber wenn es nun wirklich Gift gewesen wäre!“
„Haben Sie keine Sorge; es war Wasser!“
„Was nun?“
„Lassen Sie alles ruhig über sich ergehen. Ich wache! Während er bei Ihnen ist, stehe ich zu Ihrer Hilfe bereit. Ist es möglich, so zeige ich mich Ihnen sogar. Blicken Sie zwischen den Lidern hindurch!“
Nach einiger Zeit verabschiedete sich Emma. Sie wurde nach der Stadt gefahren. Der Amerikaner wollte sie begleiten, doch sie lehnte dankend ab und erbat sich die Begleitung Müllers. Das hatte ganz den Anschein, als treffe sie diese Wahl nur darum, weil Deep-hill der Höherstehende und Müller doch eigentlich der Bedienstete war, doch der erstere wußte wohl, daß die beiden Geschwister jedenfalls miteinander zu sprechen hatten, und nahm daher die Zurückweisung, welche übrigens gar keine war, nicht im mindesten übel.
Es war sehr dunkel geworden. Die Geschwister konnten halblaut miteinander sprechen, ohne von dem Kutscher gehört zu werden.
„Ich bebe jetzt noch“, sagte Emma. „Der Kapitän hielt mich für Großmama Margot!“
„Ich hatte mir fast so etwas gedacht, obgleich ich nicht geglaubt habe, daß du ihr in diesem Grad ähnlich bist, zumal du blond bist, während sie schwarzes Haar hatte.“
„Was wird er denken?“
„Das ist mir zunächst sehr gleich. Mich interessiert jetzt nur das Verhalten des Wahnsinnigen, des Barons de Sainte-Marie.“
„Was wollte er? Er sprach von der Kriegskasse.“
„Er phantasiert.“
„Und auch von einem, dem ich ähnlich sein muß.“
„Ich werde dir später meine Vermutungen mitteilen; für heute habe ich nicht Zeit dazu.“
Aber sein Schweigen hatte einen ganz anderen Grund. Er wollte der Schwester keine Herzensqual bereiten, welche zu heben er jetzt doch nicht imstande war. Er hätte darauf schwören mögen, daß sein Vater, Gebhard von Königsau, noch lebe und da unten in den Gewölben gefangen gehalten werde, weil der Kapitän glaubte, von ihm erfahren zu können, wo die so oft erwähnte Kriegskasse vergraben sei.
Als er mit dem Wagen zurückgekehrt war, begab er sich in sein Zimmer, schnallte den Buckel ab, steckte Laterne, Messer und Revolver ein, verriegelte die Tür von innen und stieg zunächst durch das Fenster auf das Dach hinaus und dann an dem Blitzableiter in den Hof hinab. Dabei sah er, daß der Alte sich noch in seinem Zimmer befand, wo er lang ausgestreckt auf dem Sofa lag.
Nun begab er sich nach dem bekannten Gartenhäuschen, hinter welchem er sich niedersetzte, um zu warten.
Es war längst Mitternacht vorüber, als er leise Schritte hörte. Der alte Kapitän kam und trat in das Häuschen, in dessen Innern ein schneller Lichtschein aufzuckte, um dann gleich wieder zu verschwinden. Müller wartete, bis das Geräusch der Schritte nach unten hin verklungen war, und folgte dann ganz in derselben Weise, wie er es bereits früher getan hatte. Unten im Gang, welcher nach dem Schloß führte, hatte er den Alten mit der Laterne vor sich, konnte und mußte also die seinige in der Tasche stecken lassen.
So ging es bis an die Stelle, in welcher die vielen geheimen Gänge zusammenliefen, und dann empor, gerade wie in jener Nacht, in welcher der Fabrikdirektor ermordet wurde. Es handelte sich heute sogar auch um ganz dasselbe Zimmer, in welchem nach minutenlangem Horchen der Alte auch heute verschwand. Müller tappte sich unhörbar näher und erreichte die offene Tafeltür. Drin im Zimmer war es noch dunkel. Jedenfalls befühlte der Alte den Amerikaner, um sich zu überzeugen, daß der Trank gewirkt habe. Dann wurde es plötzlich hell. Müller steckte den Kopf vor und sah, daß der Kapitän eine Blendlaterne geöffnet hatte, jedoch nur so weit, daß der Schein des Lichts nicht weiter als bloß auf das Gesicht des Amerikaners fiel.
Dieser lag mit geschlossenen Augen, unbeweglich, wie im Schlaf. Er hatte die Hände unter der Bettdecke. Jedenfalls hielt er da nach Müllers Rat irgendeine Waffe verborgen.
Der Alte betrachtete das Gesicht genau und schien befriedigt zu sein, denn er wendete sich von dem Bett ab, um die im Zimmer befindlichen Gegenstände zu untersuchen. Sein Blick fiel auf den Tisch, auf welchem die Brieftasche lag. Rasch, aber leise trat er hinzu und öffnete dieselbe, um ihren Inhalt in Augenschein zu nehmen. Dabei setzte er die Laterne auf den Tisch. Ihr Schein fiel auch mit in die Ecke, in welcher sich der geheime Eingang befand. Der Alte stand von dieser Ecke abgewendet.
Diesen Augenblick benützte Müller. Er war überzeugt, daß der Amerikaner, welcher im Schatten lag, die Augen geöffnet habe. Er wollte ihm zeigen, daß er gegenwärtig sei, und trat also in das Zimmer, in den Lichtkreis hinein. Es war dies ein Wagnis, er war ganz hell beleuchtet, und wenn der Kapitän jetzt nur den Kopf gewendet hätte, so wäre Müllers Anwesenheit verraten gewesen. Glücklicherweise aber war der Alte zu sehr mit den in dem Portefeuille befindlichen Papieren beschäftigt; er sah sich nicht um.
Da zog der Amerikaner den Arm unter der Decke hervor und hob ihn empor, zum Zeichen, daß er Müller gesehen habe. Dieser hatte seinen Zweck erreicht und trat wieder zurück. Nach einiger Zeit machte der Alte die Brieftasche zu, ohne etwas aus derselben genommen zu haben. Er legte sie auf den Tisch zurück und griff zur Laterne. Er ließ den Schein derselben wieder auf das Gesicht des Amerikaners gleiten, welcher seine vorherige Stellung eingenommen hatte, und verließ dann das Zimmer auf demselben geheimen Weg, auf dem er gekommen war.
Müller war, als er bemerkte, daß der Kapitän die Brieftasche schloß, sofort und eilig die schmalen Stufen wieder hinunter gestiegen. Unten angekommen, stellte er sich auf die Seite, um den Alten vorüber zu lassen. Er fand hinter einem Pfeiler ein gutes, sicheres Versteck.