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Bast hätte ihm gerne eine Antwort auf diese Frage gegeben, aber das konnte sie nicht. Sie stellte sie sich ja selbst seit Tagen.

»Und Sie sind ein sehr mutiger Mann, Inspektor«, sagte sie stattdessen.

»Wieso?«

»Wenn Sie wirklich glauben, dass Monro so gefährlich und nachtragend ist, dann war das, was Sie vorhin getan haben, ziemlich wagemutig ... oder dumm.«

»Ihm zu widersprechen?« Abberline grinste. »Aber was hätte ich tun sollen? Ich war nicht Herr meines Willens, so wenig wie die beiden Konstabler.« Er machte ein unschuldiges Gesicht, aber sein Grinsen wurde noch breiter. »Und außerdem habe ich mir schon lange gewünscht, ihm einmal in aller Öffentlichkeit widersprechen zu können.« Er wurde schlagartig ernst. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Irgendetwas für Sie tun?«

Bast schüttelte den Kopf. »Mir versprechen, nichts zu tun«, sagte sie. »Das wäre mir Hilfe genug ... Oder doch: Sorgen Sie dafür, dass Mrs Walsh und die beiden anderen sicher an Bord des Schiffes gelangen. Die Lady legt um Mitternacht ab. Es wäre mir recht, wenn Sie bis dahin ... nicht behelligt würden.«

»Das ist kein Problem«, versprach Abberline. »Ich stelle eine Eskorte für sie ab und ...«

»Sie missverstehen mich, Inspektor«, unterbrach ihn Bast. »Gerade das möchte ich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich möchte, dass man das Haus in Ruhe lässt.«

Abberline sagte nichts, aber sie konnte sehen, wie es schon wieder hinter seiner Stirn arbeitete. Erst nach einer geraumen Weile sagte er: »In Whitechapel macht das Gerücht die Runde, dass die fette Maude ein paar Leute losgeschickt hat, um ... etwas zurückzuholen, das ihr abhanden gekommen ist. Seither hat niemand mehr etwas von diesen Männern gehört.«

»London ist eine große Stadt«, antwortete Bast. »Da kann schon einmal ein Mann verloren gehen. Oder auch mehrere.«

»Sie verlangen eine Menge von mir, Bast«, seufzte Abberline, hob aber auch die Hand, als sie antworten wollte. »Aber vermutlich sollte ich Ihnen noch dankbar sein, dass Sie mir die Wahl lassen. Und ich tröste mich damit, dass ich mich morgen sowieso an nichts erinnern werde.«

»Möchten Sie das denn?«, fragte Bast.

Abberline zögerte. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht«, seufzte er schließlich. »Ich würde mir wünschen, manche Dinge gar nicht erfahren zu haben, aber nun, wo ich sie weiß..«

Bast war nahe daran, ihm zu verraten, dass sie ihm das Geschenk des Vergessens nicht machen konnte, aber sie schluckte die Bemerkung im letzten Moment herunter. Auch um dieses Problem würde sie sich später kümmern müssen. Nachdem er eine Weile vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, sagte Abberline: »Also gut, ich ziehe die beiden Konstabler ab, die die Pension bewachen. Unter einer Bedingung.«

Bast zog die linke Augenbraue hoch. »Bedingung?«

»Sie versprechen mir, dass ich Sie besuchen darf, sollte ich jemals nach Ägypten kommen. Und dann erzählen Sie mir alles.«

»Gar kein Problem«, antwortete Bast. »Wenn Sie von Kairo aus losreiten, ist es gleich hinter der ersten Düne links.«

»Das kann ich mir merken«, sagte Abberline ernst. »Vielleicht.«

Bast verzichtete auf eine Antwort. Ihr war nicht nach Scherzen zumute, auch wenn sie begriff, wie dringend Abberline ein Ventil brauchte, um mit dem ungeheuren Druck fertig zu werden, der auf ihm lastete. Abberline war ein intelligenter Mann, der zweifellos imstande war, über den Tellerrand hinauszusehen und auch Dinge zu akzeptieren, die nicht in sein festgefügtes Weltbild passten. Aber er war auch ein sehr logischer Mensch, das erforderte schon sein Beruf, und das, was er in den letzten Tagen erlebt und erfahren hatte, musste dieses Weltbild bis in die Grundfesten erschüttert haben.

Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich plötzlich sagen: »Wenn Sie mehr über uns wissen wollen, Frederick, dann gehen Sie ins Museum. Schauen Sie sich die Geschichte unserer Götter an, und versuchen Sie sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wären sie Menschen gewesen. Dann wissen Sie eigentlich schon alles. Nun ja«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu, »das meiste.«

Abberlines Augenbrauen hoben sich kurz, als sie ihn »Frederick« nannte statt wie bisher Inspektor. Dann schüttelte er den Kopf. »Eigentlich würde ich gerne mehr über Sie erfahren. Über Bastet und wer sie wirklich ist.«

»Es würde Ihnen nicht gefallen«, antwortete sie. »Und es wäre nicht gut für Sie.«

»Sie lassen sich nie mit Sterblichen ein, habe ich recht?«

Bast schwieg.

»Das muss ein sehr einsames Leben sein.«

»Versuchen Sie zufällig, mit mir zu flirten, Frederick?«, fragte Bast. »Das wäre ein sehr ... ungünstiger Augenblick.«

»Für so etwas gibt es keine ungünstigen Augenblicke«, behauptete Abberline. »Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Nein«, sagte Bast. »Ich meine, die Antwort ist Nein. Schon seit sehr lange Zeit nicht mehr.«

»Weil es nicht gut ist für Sie.«

»Auch das. Aber es ist ... zu schmerzhaft. Sie sterben. Es gab einen Mann in meinem Leben.«

»Einen Mann wie mich?«

»Einen forschen Inspektor bei Scotland Yard, der Freude daran hat, seinem Vorgesetzten angespitzte Bambussplitter unter die Fingernägel zu treiben?« Bast schüttelte lachend den Kopf. »Nein. Einen König. Er war ein wirklicher Herrscher, vielleicht der größte Mensch, der jemals gelebt hat. Sein Name war Ramses. Ich war fast ein Jahrhundert mit ihm verheiratet.«

Abberline blickte zweifelnd, aber Bast nickte sofort und bekräftigend mit dem Kopf. »Das Leben muss nicht mit sechzig oder siebzig Jahren enden, Frederick. Es gibt ... Wege. Wir können nicht nur nehmen, sondern auch geben. Aber irgendwann endet es. Nur der Schmerz bleibt. Er endet nie.«

»Alles endet irgendwann, Bastet«, sagte Abberline sanft. »Ist es wirklich besser, etwas erst gar nicht zu beginnen, nur weil man Angst davor hat, es irgendwann wieder zu verlieren?«

»Können Sie diesen Satz noch einmal sagen?«, fragte Bast.

»Ich meine es ernst«, sagte Abberline. »Viele Beziehungen enden irgendwann.« Er hob die Schultern. »Auch in meinem Leben gab es schon Frauen.«

»Das will ich hoffen.«

»Mehrere«, fuhr Abberline unbeeindruckt von ihrem spöttischen Lächeln fort. »Es hat niemals allzu lange gehalten, aber ich habe diese Zeit genossen. Und ich werde es wieder tun, wenn sich mir die Gelegenheit bietet.«

Und natürlich hatte er recht, dachte Bast traurig. Aber es gab einen Menschen in ihrem Leben - nur wusste sie spätestens seit gestern, dass er für sie ebenso unerreichbar bleiben würde, wie sie es für Abberline war. Und für eine sehr, sehr viel längere Zeit.

»Ich hoffe, dass Sie das tun, Frederick«, sagte sie sanft. »Und ich wünsche Ihnen von Herzen Erfolg dabei. Aber jetzt wäre es mir recht, wenn wir dieses Gespräch beenden würden.«

»Wie Sie wünschen«, antwortete Abberline enttäuscht. »Wir sind ohnehin fast da. Ich werde noch mit hineinkommen, um mich von Jacob zu verabschieden, und danach schicke ich die Konstabler weg - wenn Sie einverstanden sind.«

Bast war ihm dankbar für diesen Vorschlag. Um die beiden Konstabler hätte sie sich zur Not auch selbst kümmern können - sobald sie den zweiten gefunden hatte, hieß das -, aber vermutlich war Abberline sehr viel besser als sie imstande, Maistowe und Mrs Walsh zu beruhigen.

Außerdem ertappte sie sich dabei, die Vorstellung gutzuheißen, Abberline noch für einige weitere Augenblicke in ihrer Nähe zu haben.

Der Wagen bog in die Straße ein, in der Mrs Walshs Pension lag, und Bast registrierte beiläufig, dass der Konstabler noch immer auf der anderen Straßenseite stand und das Haus beobachtete - auch wenn sie sehr wohl spürte, dass er eher im Stehen schlief, als wirklich seine Pflicht zu tun - und im ganzen Haus Licht brannte. Angesichts ihrer bevorstehenden Abreise schien Mrs Walsh wohl ihrer normalen Sparsamkeit abgeschworen zu haben.