»Das weiß ich nicht«, antwortete Bast.
»Du weißt nich', wie deine Freundin heißt?«
»Sie wird sicher nicht unter ihrem richtigen Namen hier leben«, antwortete Bast.
»Weil sie Dreck am Stecken hat«, vermutete die Alte, und Bast schüttelte noch einmal und jetzt spürbar verärgert den Kopf. Bevor sie antwortete, ging sie die wenigen Schritte zur Chaiselongue hin und ließ sich vor dem jungen Mädchen in die Hocke sinken, um ihr direkt ins Gesicht sehen zu können. Das Kind reagierte nicht auf ihre Annäherung. Sein Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen.
»Der Name, den sie in ihrer Heimat trägt, wäre hier sehr ... ungewöhnlich. Deshalb nehme ich an, dass sie sich einen Namen zugelegt hat, der einem Abendländer ein wenig leichter über die Zunge geht.«
»Der 'nem Abendländer ein wenig leichter über de Zunge jeht«, wiederholte die Alte, wobei sie in einen noch breiteren, fast schon ordinären Slang verfiel. »Na dann pass mal auf, dass du nich' über deine eigene stolperst, Schätzchen. Ei'm Abendländer! Sprecht ihr bei euch alle so jestelzt?« Sie lachte meckernd und schüttelte so heftig den Kopf, dass Bast die Bewegung spürte, obwohl sie nicht einmal in ihre Richtung sah. »Nee, so eine war nich' hier. An jemand, der so 'ne jequirlte Kacke redet, würd ich mich bestimmt erinnern.«
Bast erwiderte nichts darauf, sondern berührte das Mädchen behutsam an der Wange und versuchte seinen Blick einzufangen, aber es gelang ihr nicht. Die Augen der Kleinen waren so leer wie ihr Gesicht, das ausgesprochen hübsch gewesen wäre, wäre darin auch nur die Spur irgendeines Gefühls gewesen. Und auch das, was sie fühlte, als Bast in sie hineinzulauschen versuchte, war kaum weniger beunruhigend. Nur ein Gemisch aus dumpfer Furcht und Resignation.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, fragte sie.
Die Frage galt den beiden Frauen vor ihr, aber es war die Alte, die antwortete. »Niemand hat was mit der Kleinen gemacht, Schätzchen«, sagte sie scharf. »Sie is' 'n bisschen müde, das ist alles. Hat sich wohl zu viel zugemutet, die Kleine. Schließlich is' sie ja noch 'n halbes Kind.«
Bast konnte nicht sagen, was sie im ersten Moment wütender machte: das, was die Alte und ihre Handlanger diesem unschuldigen Kind angetan hatten, oder die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie über sie sprach, als wäre sie kein Mensch, sondern ein Ding, über das sie nach Belieben verfügen konnte. Sie beherrschte sich, aber es kostete sie fast alle Kraft, die sie aufbringen konnte. So sehr der Anblick des dunkelhaarigen blassen Mädchens auch ihr Herz anrührte - sie war nicht deswegen hier.
»Also, deine Freundin is' nich' hier«, fuhr die Alte hinter ihr fort. Ihre Stimme war um einen Hauch schärfer geworden. »Niemand hat sie gesehen, und niemand kennt sie. Wenn deine Fragen damit beantwortet sind, kannst du wieder gehen.«
»Ist es Ihnen unangenehm, über sie zu sprechen?« Bast stand auf, drehte sich betont langsam zu ihr herum und sah so kalt und abschätzig auf sie herab, wie sie nur konnte. Es zeigte nicht die geringste Wirkung. Offensichtlich gehörte die Puffmutter nicht zu den Menschen, die sich einschüchtern ließen und war innerlich genauso robust, wie ihr Äußeres vermuten ließ. Und mindestens ebenso verkommen.
»Noch was?«, fragte sie in plötzlich fast drohendem Ton. »Zu viele Fragen zu stellen is' nich' gut fürs Geschäft, weißt du? Muss ich erst Ben rufen, damit er dir beim Rausgehen hilft?«
Bast hatte nicht übel Lust, es darauf ankommen zu lassen, und sei es nur, um die Reaktion der Alten zu sehen, wenn sie ihren Muskelberg wirklich hereinrief und er ihr nicht nur galant die Hand küsste, sondern auch alle ihre Fragen brav und bis ins Detail beantwortete. Aber sie mahnte sich zur Ruhe. Dafür, dass sie nur ein paar diskrete Erkundigungen hatte einziehen wollen, hatte sie schon viel zu viel Aufsehen erregt.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie sie nicht gesehen haben?«, fragte Bast ruhig. »Es ist sehr wichtig für mich, müssen Sie wissen. Überlegen Sie bitte noch einmal. Sie ist etwas kleiner als ich und hat langes schwarzes Haar, das sie gerne zu einer Frisur bindet, die man hier ... einen Pferdeschwanz nennt, glaube ich. Sie muss vor ungefähr zwei Jahren gekommen sein.«
»Nie jesehen«, beharrte die Alte. Und sie sagte die Wahrheit. Bast hatte ihre Frage nicht nur auf der Ebene des Hörbaren gestellt, und sie übte genug Druck aus, um sicher zu sein. Vielleicht mehr, als gut war.
Doch sie bekam Hilfe von unerwarteter Seite. »Das könnte Patsy sein«, sagte die jüngere der beiden Frauen.
Die Augen der Alten verengten sich zu zwei schmalen, ärgerlichen Schlitzen, die in der feisten Masse ihres Gesichtes beinahe verschwanden, und Bast drehte sich rasch wieder zu den beiden Frauen um, wobei sie es sorgsam vermied, das Mädchen zwischen ihnen auch nur anzusehen.
»Patsy?«
»Sie ist vor zwei Jahren aufgetaucht«, antwortete sie. »Ganz wie Sie es gesagt haben. Sie hat einen Job gesucht, aber sie war nicht lange hier. Nur ein paar Tage.«
»Einen Job?«, wiederholte Bast ungläubig. »Sie hat eine Arbeit gesucht? Hier?« Alles in ihr wollte die bloße Vorstellung empört von sich weisen.
Und doch ... es wäre möglich. Vollkommen absurd, aber möglich. Sie war schockiert.
»Ich hab sie rausgeschmissen«, bestätigte die Alte. »Hat genau so 'ne jequirlte Kacke geredet wie du und die Kunden dumm angequatscht. So was kann ich hier nich' gebrauchen.«
»Sie hat schwarzes Haar und sieht Ihnen tatsächlich eine bisschen ähnlich«, fuhr die andere fort.
»Nur, dass sie nicht schwarz ist«, sagte die Alte. Sie machte ein ordinäres Geräusch. »Und jetzt zieh endlich Leine, Schätzchen. Wenn du die Kleine willst, sie kostet zwei Pfund die Stunde. Wenn nicht, verschwinde von hier und halt uns nicht auf. Es sei denn, du willst in Wahrheit was ganz anderes.«
»Und was könnte das sein?«, fragte sie ruhig.
»Vielleicht suchst du ja auch Arbeit«, antwortete die Alte grinsend. Der Blick, mit dem sie Bast nun maß, wurde ... taxierend, auf eine anzügliche Art, die ihr umso schlimmer erschien, als er von einer Frau kam. »Du redest zwar einen gotteslästerlichen Unsinn, aber so wie du aussiehst ... Ich kenn da ein paar Gentlemen, die 'ne Menge Geld für ein Schäferstündchen mit dir springen lassen würden. Also wenn du interessiert bist, lass es mich wissen, Schätzchen. Ich bin sicher, wir werden uns schon einig.«
Bast beherrschte ihre schon wieder aufflackernde Wut mit immer mehr Mühe. Aber sie hielt sich im Zaum. Statt irgendetwas zu sagen, drehte sie sich wieder zu den beiden anderen Frauen um. Sie wollte es nicht, aber ihr Blick suchte wie von selbst den des Mädchens und fand auch diesmal nichts als Leere. Plötzlich spürte sie einen harten Kloß im Hals, der ihr fast schwer machte, zu atmen. Ein Leben, das zu Ende war, noch bevor es wirklich begonnen hatte. Sie hätte der Alten befehlen können, das Mädchen nicht nur gehen zu lassen, sondern ihr auch einen sicheren Platz zu suchen und sie außerdem mit einer großzügigen Entschädigung auszustatten, und sie hätte es ohne zu Zögern getan ... aber wozu? Schon bald wäre sie nicht mehr hier, um ihre schützende Hand über das Mädchen zu halten, und dann würde es nur umso mehr unter dem leiden, was sie getan hatte. Um noch einmal Isis' Lieblingssatz zu zitieren: Du kannst nicht die ganze Welt retten, Liebes.
»Wo finde ich diese Patsy?«
»Versuch's drüben im Ten Bells«, sagte die Alte, bevor eine der beiden anderen ihre Frage beantworten konnte. »Ich hab gehört, da is' sie manchmal. Is' aber schon eine Weile, dass sie das letzte Mal dort aufgetaucht is'.«
»Dafür, dass Sie nichts über sie wissen, wissen Sie eine Menge über sie, finde ich«, sagte Bast kühl.