Aber vielleicht gab es auch einen anderen Grund ...
Der Wagen hielt an, und Abberline machte Anstalten, sich von seinem Sitz zu erheben und nach der Tür zu greifen, doch Bast hielt ihn mit einer fast erschrockenen Bewegung zurück.
Abberlines Blick sprach Bände. Bast schüttelte nur wortlos den Kopf, stieg als Erste aus dem Wagen und legte die Hand auf den Schwertgriff, während sie sich der Haustür näherte. Etwas stimmte nicht. Sie spürte ... Schmerz. Grenzenloses Leid und Furcht und das Echo vergangener Qualen. Ihre Hand schmiegte sich fester um den Schwertgriff, und gleichzeitig lauschte sie so konzentriert, wie sie konnte.
Im allerersten Moment schien das Haus vollkommen still zu sein, aber dann vernahm sie ein leises Rascheln und Rumoren und Stöhnen. Vielleicht etwas wie ein Weinen, aber da war sie sich nicht sicher.
Abberline wollte ihr folgen, und obwohl er hinter ihr war, spürte sie, wie er unter sein Cape griff und eine Waffe zog. Vielleicht spürte er es ja auch, wahrscheinlicher aber war, dass er ihre Reaktion beobachtete und die richtigen Schlüsse daraus zog.
Sie hob rasch die freie Hand. »Nicht«, sagte sie halblaut. »Wo ist der zweite Mann? Auf der Rückseite? Dann sehen Sie nach ihm, aber unauffällig. Kommen Sie nach, wenn alles in Ordnung ist.«
Abberline bewies, dass er immerhin gelernt hatte, ihren Instinkten zu vertrauen, indem er sich wortlos umdrehte und im Laufschritt in die Richtung verschwand, aus der die Droschke gerade gekommen war. Bast zählte in Gedanken langsam bis zwanzig - nur um sicherzugehen, dass er tatsächlich außer Sichtweite war -, konzentrierte sich kurz auf den Konstabler auf der anderen Straßenseite und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Kälte und seine halb abgestorbenen Zehen und streckte die Hand nach dem Türknauf aus, zog den Arm aber dann noch einmal zurück und tat dasselbe mit dem Kutscher. Was immer dort drinnen auch passiert war, das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, waren noch mehr Zeugen.
Unendlich behutsam öffnete sie die Tür. Wie sie es schon von draußen gesehen hatte, brannten sämtliche Lampen im Salon, als härte Mrs Walsh möglichst viel Licht gemacht, um die bösen Geister zurückzuhalten, die das Haus belagerten.
Genutzt hatte es nichts.
Maistowe lag lang ausgestreckt vor dem Kamin. Zwei der vier Stühle neben ihm waren umgefallen, und der ehemals blütenweiße Verband um seine Stirn hatte jetzt dieselbe, dunkelrot-feuchte Färbung angenommen wie die langsam größer werdende Lache, in der sein Gesicht lag. Er war noch am Leben - Bast konnte das rasende Hämmern seines Herzens hören, und das gedämpfte Stöhnen, das sie schon draußen gewarnt hatte, stammte eindeutig von ihm.
Sie warf einen raschen, sichernden Blick in beide Richtungen, ehe sie mit drei, vier schnellen Schritten neben Maistowe war und sich auf ein Knie herabsinken ließ. Er war bewusstlos, schlug aber mit einem neuerlichen und noch lauteren Stöhnen die Augen auf, als sie ihn auf den Rücken drehte, und versuchte vermutlich, sie mit trüben Blicken zu erkennen.
»Es ist alles in Ordnung, Jacob«, sagte Bast rasch. »Ich bin es, Bast. Was ist passiert?«
»Weiß nich'«, nuschelte Maistowe. »Da waren ... Schritte. Jemand ... ist gekommen. Großer Gott, mein Kopf!«
Bast legte ihm rasch die Hand auf die Stirn, linderte seinen Schmerz und überzeugte sich gleichzeitig davon, dass er nicht wirklich schwer verletzt war. Er hatte eine üble Platzwunde am Hinterkopf, die heftig blutete und wahrscheinlich höllisch wehtat, aber nicht wirklich gefährlich war.
»Jemand hat Sie niedergeschlagen«, sagte sie. »Wer?«
Maistowe richtete sich mühsam in eine halbwegs sitzende Position auf. Bast hatte ihm seine Schmerzen genommen, sodass er wieder halbwegs klar denken konnte, aber er bewegte sich trotzdem am Rande einer neuerlichen Bewusstlosigkeit. Seine Stimme klang schleppend.
»Ich weiß nicht«, murmelte er. »Jemand ist gekommen und ... hat mich niedergeschlagen. Von hinten. Ich weiß nicht wer. Es ... tut mir leid.«
Die Küchentür flog auf, und Abberline kam herein, einen Revolver in der rechten Hand. »Seien Sie froh, dass Sie noch leben, Jacob«, sagte er. An Bast gewandt fügte er hinzu: »Der Konstabler ist tot. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Bast fragte sich beiläufig, wieso er eigentlich nicht einmal außer Atem war. Er musste das Haus in Rekordzeit umrundet und über die Mauer gestiegen sein. Er war besser in Form, als sie angenommen hatte.
»Wo sind Mrs Walsh und das Mädchen?«, fragte er. »Noch unterwegs, hoffe ich?«
Maistowe verbarg das Gesicht in den Händen und musste sich anstrengen, um nicht vor Schwäche auf die Seite zu kippen. »Sie sind ... kurz vorher zurückgekommen«, murmelte er. »Cindy war oben, und ...«
Bast hatte genug gehört. Etwas in ihr schien zu Eis zu erstarren, während sie aufstand und das Schwert zog. »Bleiben Sie bei ihm, Inspektor.«
Sie rechnete nicht wirklich damit, dass er das tat, nahm aber auch keine Rücksicht auf ihn, sondern sprang mit gewaltigen Sätzen die Treppe hinauf und lief praktisch durch die erste Tür hindurch, ohne auch nur langsamer zu werden. Es gab keinen Grund mehr, vorsichtig zu sein. Wenn Horus tatsächlich noch im Haus war, wartete er ohnehin auf sie.
Der Raum war jedoch leer; sah man von fünf Toten ab, die säuberlich nebeneinander auf dem blutgetränkten Doppelbett lagen.
Bast versetzte der Tür einen zweiten, wütenden Tritt, der sie gegen die Wand krachen und in Stücke brechen ließ.
»Horus, du verdammter Feigling!«, schrie sie. »Zeig dich! Ich bin hier! Das wolltest du doch!«
Sie bekam keine Antwort. Als sie das Zimmer verließ, kam Abberline mit gezogener Waffe am oberen Ende der Treppe an. Er wollte an ihr vorüber eilen, doch Bast stieß ihn mit einer groben Bewegung zurück, trat an die nächste Tür heran und sprengte sie mit einem Fußtritt auf.
Das Geräusch, mit dem die Tür gegen die Wand prallte und von oben nach unten riss, ging in dem hellen Klirren unter, mit dem das Schwert ihren Fingern entglitt und zu Boden fiel.
Horus wartete auch hier nicht auf sie, doch auch dieses Zimmer war nicht leer, und Mrs Walsh hatte auch hier sämtliche Lampen entzündet, den Gespenstern, die sie zu fürchten schien, damit aber ebenso wenig Einhalt gebieten können wie unten im Haus. Bast konnte sogar erkennen, auf welchem Weg sie hereingekommen waren: Das Fenster stand offen, und es war inzwischen auch hier drinnen empfindlich kalt geworden; kalt genug, um Mrs Walshs Atem, die auf dem Bett saß und Cindy wie einen Säugling in den Armen hielt, in grauen Dunst zu verwandeln. Auch von ihren Händen, die voll waren mit Cindys Blut, stieg ein feiner, dunstiger Nebel auf, ebenso wie von der klaffenden Wunde an Cindys Kehle.
»Großer Gott, was ... was ist ... passiert?«, stammelte Abberline. An ihr vorbei wollte er das Zimmer betreten, doch Bast rührte sich nicht - sie konnte es nicht. Etwas in ihr war ... einfach erstarrt. Tot. Sie stand einfach nur da und starrte Mrs Walsh und das tote Mädchen an, unfähig, sich zu rühren, zu denken, sodass Abberline sie schließlich fast mit Gewalt aus dem Weg schieben musste, um zum Bett zu gelangen. Auf dem Weg dorthin steckte er seinen Revolver ein, um mit beiden Händen nach Mrs Walsh oder dem Mädchen greifen zu können, doch einen halben Schritt, bevor er das Bett erreichte, schienen ihn alle seine Kräfte zu verlassen. Er blieb stehen, und seine Arme sanken kraftlos herunter.
»Großer Gott«, murmelte er. »Mrs Walsh ...«
»Er ... er hat sie einfach ... umgebracht«, flüsterte Mrs Walsh. Ihre Stimme war nur ein Hauch, so dünn wie das Weinen eines verwundbaren kleinen Vogels. Sie hatte geweint - Bast erinnerte sich plötzlich an das gedämpfte Schluchzen, das sie draußen auf der Straße gehört hatte, und sie sah auch die Spuren der Tränen auf ihrem Gesicht -, aber jetzt waren ihre Augen trocken. »Einfach so. Sie hat gar nichts gesagt. Sie hat nicht einmal Angst gehabt. Er hat ihr einfach ... die Kehle durchgeschnitten. Einfach so.«