»Wer?«, fragte Abberline.
Mrs Walsh antwortete ihm nicht. Mühsam, als laste ein unsichtbares Tonnengewicht auf ihren schmalen Schultern, hob sie den Kopf und sah Bast an. Auch Abberline drehte den Kopf und warf ihr einen eher schon verzweifelten als fragenden Blick zu, doch Bast reagierte auf nichts davon. Sie starrte Cindy an und wartete darauf, dass sie etwas empfand. Aber da war ... nichts.
Abgesehen von der dünnen Wunde an ihrem Hals war das Mädchen vollkommen unversehrt. Ihr Mörder hatte darauf verzichtet, sie zu verstümmeln oder gar auszuweiden, wie er es mit Arthur und Marie-Jeanette getan hatte, sondern ihr einen fast barmherzigen, auf jeden Fall aber schnellen Tod gewährt - aber irgendwie machte das alles beinahe nur noch schlimmer. Warum empfand sie nichts?
»Wer war das, Mrs Walsh?« Abberlines Stimme blieb leise, fast sanft, nahm zugleich aber auch einen irgendwie ... amtlichen Ton an, der kein bisschen verletzend oder auch nur einschüchternd wirkte, aber seinen Zweck erreichte. Glorias Blick löste sich von Basts Gesicht und suchte den Abberlines, ohne dass das Leben wirklich in ihre Augen zurückzukehren schien.
»Bitte erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Abberline sanft.
»Und keine Sorge um Jacob. Es geht ihm gut.« Er nickte auffordernd. »Also, Was ist passiert'«
»Er ist einfach aufgetaucht«, antwortete Mrs Walsh, noch immer mit dieser sonderbar hellen, zerbrechlichen Stimme, die an ein Weinen erinnerte, ohne es zu sein. Ihre Hand strich über Cindys blasses Gesicht, ohne dass sie sich der Bewegung auch nur bewusst zu sein schien. »Wie aus dem Nichts. Er stand einfach da und ... und hat sie umgebracht. Ich konnte nichts tun. Ich wollte es, bitte, das müssen Sie mir glauben! Ich habe versucht, mich zu wehren, aber er ...«
»War viel zu stark für Sie, das ist mir klar«, unterbrach sie Abberline. »Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Was hätten Sie tun sollen?«
Etwas in Bast ... spannte sich. Da war plötzlich ein sanfter Druck, der allmählich zunahm, langsam, aber so unerbittlich wie eine Stahlfeder, die immer mehr zusammengepresst wurde. Sie sah Cindy an und empfand noch immer nichts, aber sie begann zu ahnen, dass vielleicht genau dieses Nichts der schrecklichste aller Schmerzen war, die sie hätte empfinden können.
»Erinnern Sie sich, wie er ausgesehen hat?«, fragte Abberline.
Darauf sagte Mrs Walsh nichts, aber sie sah zu Bast hin, und das war Antwort genug. Abberline nickte.
»Und Sie haben gar nichts gesagt?«, fragte Abberline.
»Nein«, antwortete Mrs Walsh. »Nichts. Kein Wort.«
Bast schloss die Augen, aber es nutzte nichts. Sie sah Cindys blasses Gesicht noch immer ebenso deutlich vor sich wie Mrs Walshs blutverschmierte Hände und die Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie wünsche sich, sie hätte an ihrer Stelle weinen können.
Das konnte sie nicht. Doch sie konnte etwas anders tun. Etwas, das sie schon vor langer, vor sehr langer Zeit hätte tun sollen.
Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und stellte sich das Bild einer Kette vor. Es wäre nicht nötig gewesen, aber es erschien ihr angemessener als ein einfaches Loslassen, und es war vielleicht das letzte Mal, dass sie etwas wirklich selbst entscheiden konnte. Es war eine sehr schwere, massive Kette, alt und mit Rost und Grünspan überzogen, aber gemacht für die Ewigkeit und unzerstörbar, außer für sie.
Bast zerriss die Kette, und in ihrer Seele hallte ein tiefes, unendlich erleichtertes Seufzen wider.
»Ich rufe meine Leute, damit sie auf Jacob und Sie aufpassen«, sagte Abberline. »Und dann ...«
»Sie werden nichts dergleichen tun, Inspektor.« Langsam bückte sie sich nach ihrem Schwert, hob es auf und schob es unter ihren Gürtel. »Sie werden dafür sorgen, dass Mrs Walsh und Jacob an Bord der Lady gelungen und sicher das Land verlassen. Das ist alles, was Sie tun werden. Alles andere ist meine Sache.«
»Aber das kann ich nicht, Bast!«, sagte Abberline. »Wissen Sie denn nicht, wer ...«
»Sie werden genau das tun«, fiel sie ihm ins Wort. Gleichzeitig legte sie die Hand auf den Schwertgriff, aber sie glaubte nicht, dass es das war, was Abberline nicht nur verstummen, sondern nach einem weiteren Augenblick sogar nicken ließ. Es war wohl viel mehr die Kälte, die plötzlich in ihrer Stimme lag, ein Ton, der neu war und sogar ihr selbst ein flüchtiges, eiskaltes Schaudern über den Rücken laufen ließ.
»Wenn Sie Ihren Freunden noch einen Gefallen erweisen wollen, dann sorgen Sie dafür, dass hier keine Spuren zurückbleiben, und lassen Sie Cindy anständig begraben«, sagte sie, während sie sich bereits herumdrehte, um das Zimmer zu verlassen.
»Und hören Sie auf, mich Bast zu nennen«, fügte sie hinzu. »Mein Name ist Sachmet.«
ACHTES Kapitel
Jemand hatte die Tür des Ten Bells repariert, aber die Arbeit hatte sich nicht gelohnt. Bast machte sich nicht die Mühe, nach der Klinke zu greifen, sondern schaffte das Hindernis kurzerhand mit einem Tritt aus dem Weg, zusammen mit dem vierschrötigen Kerl, der mit vor der Brust verschränkten Armen davor gestanden und versucht hatte, sie aufzuhalten. Vielleicht hatte er es auch gar nicht versucht, sondern nur im falschen Moment eine falsche Bewegung gemacht, und vielleicht nicht einmal das, sondern einfach das Pech gehabt, da zu sein ... Bast war es egal. Sie hatte keine Zeit für solche Spielereien. Die Tür flog nach innen, wo sie gegen die Wand krachte und zerbarst, und ihr unglückseliger Bewacher in die entgegengesetzte Richtung und gegen einen Tisch, den er zusammen mit den daran sitzenden Zechern zu Boden riss.
Bast sah nicht einmal hin, sondern war mit einem einzigen zornigen Schritt durch die Tür und steuerte den Tresen an. Das Lokal war bereits voll besetzt, obwohl es noch nicht einmal sieben war; und ihr rüdes Eintreten ließ ein Dutzend Gäste erschrocken von ihren Plätzen aufspringen, und noch mehr verdutzt in ihren Gesprächen innehalten und die Köpfe in ihre Richtung drehen. Bast hatte ihre Waffe nicht gezogen, aber ihr Mantel stand offen und flatterte wie ein Paar riesiger schwarzer Fledermausflügel hin und her; sodass jedermann das gut armlange Schwert sehen konnte, das an ihrem Gürtel hing - und wenn schon nicht das, so sorgte doch die beinahe sichtbare Woge von Zorn, die ihr vorauseilte dafür, dass sich ihr niemand in den Weg stellte. Den Einzigen, der mutig - oder betrunken - genug war, es dennoch zu versuchen, schmetterte sie mit einem Rückhandschlag aus dem Weg, der ihn vermutlich ein paar Zähne kostete, den sie selbst aber nicht einmal wirklich bemerkte.
Noch bevor er ganz zu Boden gestürzt war, hatte Bast die Theke erreicht. Wie sie erwartet hatte, stand Red dahinter und bediente die Gäste, und aus irgendeinem Grund schien er der Einzige im ganzen Ten Bells zu sein, dem ihr Eintreten nicht aufgefallen war. Er drehte sich zu ihr herum und setzte dazu an, sie nach ihren Wünschen zu fragen, und Bast ließ ihm nicht einmal Zeit, seine Verblüffung bei ihrem unerwarteten Anblick zu verarbeiten, sondern packte ihn mit beiden Händen an der Brust seines zerschlissenen Hemdes und zerrte ihn halbwegs über die Theke.
»Wo ist sie?«, fuhr sie ihn an. »Ist sie oben, in deinem Zimmer?«
Red begann in ihrem Griff zu zappeln und komische, keuchende Laute auszustoßen. Er hätte nicht einmal antworten können, wenn er es gewollt hätte, denn Basts Griff schnürte ihm die Luft ab. Aber sie hörte Geräusche hinter sich: Aus den ersten Schreckensrufen war inzwischen fast ein kleiner Tumult geworden. Stühle fielen um, ein Glas zerbrach klirrend, und Schritte näherten sich. Bast spürte plötzlich die Nähe eines Mannes und seine enorme Gewaltbereitschaft, trat nach hinten aus und wurde mit einem schmerzerfüllten Grunzen und dem befriedigenden Geräusch brechender Knochen belohnt.